8 members like this


Aufrufe: 401 Created: Vor 2 Monate Updated: Vor 2 Monate

Auf Abschlussfahrt

Am Schluss kommt die Wahrheit immer heraus...

Es klopft an der Tür und eine andere Helferin schaut herein. "Kannst du mir kurz in der 2

helfen? 5 Minuten? Es ist sonst gerade niemand frei" fragt sie ihre Kollegin. "Eigentlich wollten wir gerade anfangen zu behandeln." "Gehen sie nur", sagt der Zahnarzt. Er fährt den Stuhl wieder nach hinten. "Nutzen wir doch die kleine Pause und schauen uns den restlichen Zahnstatus an". Wieder greift er zu Sonde und Spiegel. "Und wieder weit aufmachen" Julia setzt zum Protest an, schließlich war sie nur wegen des schmerzenden Backenzahns da. Doch mit einem leichten Griff an ihr Kinn hat der Zahnarzt schon ihren Mund geöffnet. Er beginnt, an den Backenzähnen des rechten Oberkiefers zu kratzen. "17 Inititalkaries, 16 ebenfalls- beides zur Beobachtung. 15,14,13,12 o.B., aber-" er greift wieder zum Puster und bearbeitet den rechten Schneidezahn, " 1.1 hat tatsächlich eine Karies. Dann haben wir den 26 wie benannt, der Rest im Oberkiefer ist ok." Weiter geht es rechts unten. Hier war scheinbar nichts zu beanstanden. Die Backenzähne links unten werden gründlich getrocknet, was ordentlich zieht. Nun beginnt er mit der Sonde im hintersten Zahn zu stochern und arbeitet sich nach vorne vor. Immer wieder bemerkt Julia, wie die Sonde am Zahn hängenbleibt. "37 Fissurenkaries, 36 geht schon tiefer, 35, 34 ebenfalls kariös. 33,32,31 o.b." Endlich nimmt er das Folterwerkzeug aus dem Mund, fährt Julia jedoch noch nicht wieder in die aufrechte Position. Stattdessen rollt er zurück und nimmt sich ein anderes, stabförmiges Gerät. Es erinnert sie ein wenig an eine Ultraschallsonde beim Frauenarzt. "Wieder aufmachen". Er fährt mit dem Gerät durch den Mund. "So, das wars. Du kannst ausspülen". Der Stuhl fährt wieder in die normale Position. Julia greift zum Becher und wischt sich den Mund ab. Wie es nun wohl weitergeht? Der Zahnarzt geht zum Computer. "Du kannst zu mir kommen". Julia schluckt. Der Arzt klickte mit der Maus an ihrem an Zahnschema, immer mehr Zahnflächen werden schwarz. Was die schwarzen Markierungen bedeuteten, kann sie sich natürlich denken. "So, du hast zu der Ruine oben links noch weitere 5 kariöse Zähne. Das ist sicherlich nicht in 6 Monaten entstanden. Also nochmal von vorn: Wann war dein letzter Besuch beim Zahnarzt? Ich mag es nämlich nicht, wenn man mich anlügt." Seine Stimme ist nun nicht mehr so verständig wie am Anfang. Julia, immer noch mit dem Latz um den Hals, windet sich ein wenig, bevor sie kleinlaut sagt "Vielleicht ist es auch schon 1 Jahr her".

"Ja, ja, die Zeit ist ein dynamisches Gefüge. Insbesondere beim Zahnarzt. Zwischen den Besuchen vergeht sie wie nichts und beim Termin bleibt sie quasi stehen", er grinst und tauscht einen vielsagenden Blick mit ihrem Lehrer aus, der immer noch in der Ecke sitzt. Schließlich klickt er das Zahnschema weg und öffnete eine anderes Fenster. Schlagartig ist Julia klar, was diese komische Sonde war: eine Kamera. Auch Herr Robert schaut nun interessiert auf. "Hier siehst du deine kaputten Zähne ganz genau. Oben links der Backenzahn: noch Reste von der Füllung, ansonsten viel Karies, der Teil nach vorn fehlt- aber das spürst du selbst mit der Zunge. Jetzt der Schneidezahn: das Loch mag klein aussehen, aber geht vermutlich tief nach unten. Wenn man an einer solchen Stelle Karies bekommt, spricht das sehr für eine vernachlässigte Zahnpflege. Jetzt die vier Zähne unten links: die schwarzen Striche auf den Oberflächen: alles Karies, teilweise ist der Schmelz auch schon eingebrochen. Das wären so die größten Befunde. Eigentlich sollten junge Erwachsene heutzutage ein naturgesundes Gebiss haben. Du kannst dich wieder setzen."

Julia nimmt wieder auf dem Stuhl platz. Sie fühlt sich elendig. Das es so schlimm ist, hätte sie nicht gedacht. Wäre sie doch regelmäßiger zu den Terminen gegangen...

"Gut, dann werde ich mal mit deinen Eltern telefonieren, wie wir weiter vorgehen." Die Stimme des Arztes reißt sie aus ihren Gedanken. Sie schreckt hoch. "Wieso mit meinen Eltern? Schließlich bin ich volljährig!", sagt sie empört. "Das ist zwar richtig, aber da du über

deinen Vater versichert bist, bekommt er die Rechnung. Daher muss ich mich absichern, nicht dass ich nachher auf den Kosten sitzen bleibe. Zumal es sich ja nicht um eine Kleinigkeit handelt." Er schaut zu seiner Helferin, die gerade das Zimmer wieder betritt. "Haben wir eine Telefonnummer der Eltern der jungen Dame?" "Ja, ist abgespeichert". "Wunderbar, danke." Verdammt, die Handynummer ihres Vaters steht auf den blöden Notfallbogen der Schule. Der wird sich freuen, sicherlich ist er gerade -wie immer- in einem wichtigen Meeting. Julia hatte schon früh gelernt, dass es unklug ist, ihren Vater bei der Arbeit zu stören.

Dr. Schneider verlässt das Behandlungszimmer durch eine Schiebetür an der Seite, scheinbar befindet sich dort ein Zwischenraum zum nächsten Behandlungszimmer. Julia kann ihren Blick nicht vom Bildschirm abwenden. Auf der einen Seite faszinieren sie die Fotos, auf der anderen Seite ist die Vorstellung, dass sich dies in ihrem Mund abspielt, abstoßend. Mit der Zunge fährt sie ihre Zähne ab. Am Schneidezahn ist eine Kante, die ihr vorher schon aufgefallen war. Manchmal zieht es auch in dem Zahn beim Abbeißen- aber sie hatte sich nichts weiter dabei gedacht. Empfindliche Zahnhälse oder so- wie in der Werbung eben. Das war also auch ein Loch. Wie man das wohl behandelt? Durch die geschlossene Tür hört sie den Arzt telefonieren. Das würde zu Hause Ärger geben, vor allem wenn raus kam, dass sie nicht zu den vereinbarten Terminen gegangen ist. Großspurig hatte sie ihrer Mutter dabei erklärt, dass sie ja nun alt genug war, um alleine den Zahnarzt zu besuchen. Sie hatte immer etwas Angst, dass sich die Praxis aufgrund der versäumten Termine meldete, aber das war nie geschehen. Und nach ein paar Tagen hatte sie das auch wieder verdrängt.

Wieder steckt eine andere Mitarbeiterin den Kopf durch die Tür. Dadurch kann Julia ein paar Worte des Telefonats mithören "Ausgedehnter Befund... hohe Kariesaktivität... rascher Handlungsbedarf...", bevor sich die Tür wieder schloss.

Kurze Zeit später kommt der Zahnarzt wieder herein. "Dein Vater ist umfassend informiert. Er ist nicht sehr begeistert. Er wünscht, dass wir den schmerzenden Zahn anbehandeln und die übrigen Kavitäten füllen." Julia schaute ihn fragend an. "Das heißt wir behandeln heute so viele von den Löchern, wie wir schaffen. Es sind ja genug da. Da du heute bisher die einzige Akutpatientin bist, haben wir Zeit. Wir nehmen uns die linke Seite vor- oben und unten, und vielleicht noch den Schneidezahn. Wäre ja schade, wenn der als nächstes abbricht, nicht wahr?" Er grinst höhnisch.

Die Helferin beginnt, alle möglichen Instrumente aus den Schubladen zu holen und bestückt die Turbinen mit verschiedenen Bohraufsätzen. Der Arzt wandte sich nun an Julias Lehrer: "Möchten Sie nicht lieber ihre Zeit an einem angenehmeren Ort verbringen? Sie haben ja gesehen, was wir hier zu tun haben. 90 Minuten brauchen wir sicherlich. Im Erdgeschoss gibt es ein schönes Café, das kann ich nur empfehlen. Julia ist bei uns in besten Händen." Zwischen den beiden schien die Chemie zu stimmen. "Das Angebot nehme ich gerne an. Ich komme dann wieder hoch. Bis später Julia." Und schon ist er verschwunden. Vielleicht auch besser so, denkt sie. Es war schon peinlich, dass er die Bilder der ekligen Löcher gesehen hatte. Der hielt sie jetzt bestimmt für total asozial.

"Ach Carolin", der Arzt wendet sich an die Helferin, "nebenan habe ich die Kontaktdaten der Zahnarztpraxis der jungen Dame notiert. Bitte lassen sie von dort die letzten Befunde schicken, ich würde gern genau wissen, wie der Zahn behandelt wurde." "Gern, Dr. Schneider", lächelt die Helferin, die vermutlich kaum älter als Julia selber ist.

Der Stuhl wird nun wieder in die Behandlungsposition gefahren. "Als erstes betäube ich den Zahn oben, wo der Nerv frei liegt. Nicht dass es nachher heißt, hier werden Menschen gequält." Wieder ein ironisches Lächeln, bevor Dr. Schneider seinen Mundschutz hochzieht und zur Spritze greift. "Mund auf". Julia spürt mehrere Einstiche und den Druck des Lokalanästhetikums im Gaumen. Zum Glück eine Betäubung. Langsam keimt in ihr Hoffnung, dass das Ganze doch nicht allzu schlimm werden würde. "So, du kannst ausspülen." Der Stuhl wird hochgefahren. "Bis die Betäubung wirkt, nehmen wir uns die Zähne unten vor."

Carolin kommt wieder in den Raum, in der Hand einen Ausdruck. "Das kam von der Praxis der Patientin. Etwas aktuelleres hätten sie nicht." "Dann lass mal sehen". Der Arzt nimm die Blätter entgegen, vertieft sich in den Befund und stößt kurz darauf einen Pfiff aus. "Letzter Eintrag aus dem vorletzen Jahr: Zahn 26 mit defekter Füllung, Randspaltenkaries, Erneuerung erforderlich. Handschriftlich ergänzt: Folgetermine in unserer Praxis nicht wahrgenommen." Mit gerunzelter Stirn schaut Dr. Schneider Julia tief in die Augen. Sein Blick war unerbittlich. "Habe ich nicht gesagt, dass ich es verabscheue, wenn man mich anlügt? Du hast Glück, dass du schon deine Spritze bekommen hast, die hätte ich dir jetzt nicht mehr gegeben!