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Aufrufe: 1906 Created: 2020.04.23 Updated: 2020.08.07

Dr. Sophie Marchand und die Familie Vincent

Sophie und Yacine, Teil 1

Sophie:

Ich geniesse meinen wohl verdienten Feierabend heute auf der Couch und zappe etwas durch die Sender. Doch es gibt keinen Film, der mich so richtig packt. Auf dem Sportkanal bleibe ich hängen, sie übertragen gerade einen Volleyballmatch der obersten Herrenliga. Ich bin selber begeisterte Volleyballspielerin, spiele zwar keine Meisterschaft mehr, mache aber immer noch bei zwei Plauschteams mit, wo ich dank meiner Erfahrung noch gut mithalten kann.

Doch, was ich hier sehe, spielt natürlich wortwörtlich in einer anderen Liga. Ich staune immer wieder, welche Schlaghöhe die Typen erreichen und wie sie den Ball beschleunigen können. Die Angreifer sind durchs Band um die zwei Meter gross oder darüber und bewegen sich dementsprechend zwar durchaus effizient, aber eben recht schlaksig. Dies gilt natürlich nicht für die Zuspieler und Liberos, aber den Angreifern sieht man ihre Grösse an den Bewegungen an.

Nur ein Spieler - es ist ein Aussenangreifer - bewegt sich total geschmeidig, ja fast anmutig zwischen den grossen Teamkollegen. Irgendwie kommt mir sein Gesicht bekannt vor, aber ich kann ihn nirgends einordnen.

Ich bin übrigens Sophie Marchand, von Beruf Ärztin mit einer eigenen Praxis in einem grösseren Dorf auf dem Land. Seit fünfzehn Jahren schon arbeite ich jetzt da, und die Arbeit gefällt mir immer noch und füllt mich aus, vor allem, nachdem mein Mann und ich uns vor einigen Jahren getrennt haben. Es war eine Trennung im gemeinsamen Einvernehmen, Kinder haben wir zum Glück keine. Er hat seit einiger Zeit wieder eine Partnerin, aber ich bin seither alleine geblieben. Trotzdem bin ich ganz zufrieden mit meinem Leben und eben auch mit meinem Job.

Im Fernsehen schlägt gerade ein Spieler der einen Mannschaft den gegnerischen Block an, der Ball prallt daran ab und springt weit nach hinten. Der Libero kommt noch an den Ball ran, kann ihn aber nicht mehr kontrollieren. Ein zweiter Verteidiger rennt dem Ball hinterher, macht einen Sprung über die Banden und kann den Ball in der Luft zurückspielen, so dass die Mannschaft ihn ins gegnerische Feld zurückbringt. Die Gegner bauen einen Spielzug auf, doch der Block ist diesmal erfolgreich und bucht den Punkt für sich. Das Publikum feiert die Mannschaft frenetisch.

Die Kamera schwenkt wieder zum zweiten Verteidiger zurück. Der liegt immer noch am Boden und hält sich den Kopf. Der Physio ist bereits bei ihm und betreut ihn. Beim näheren Hinsehen erkenne ich meinen “Lieblingsspieler”, der eine Schramme am Kopf hat und leicht blutet. Er wird ersetzt und muss wohl ärztlich betreut werden. Ich hoffe für ihn, dass er keine Gehirnerschütterung davon getragen hat. Müde stelle ich den Fernseher ab und mache mich auf den Weg ins Bad.

Yacine:

Nun liege ich hier im Notfall der Uniklinik und warte auf den behandelnden Arzt. So ein Mist, ich habe bei meinem Sprung über die Banden übersehen, dass gleich dahinter ein Stuhl stand, an dem ich meinen Kopf recht unsanft angeschlagen habe. Der tut nun ziemlich weh, ausserdem habe ich eine Wunde am Kopf, die eventuell genäht werden muss.

Während ich so alleine dasitze und warte, erinnere ich mich an eine ähnliche Situation aus meiner Kindheit. Ich hatte mir ebenfalls den Kopf gestossen und eine Platzwunde davongetragen. Auch da wartete ich alleine (ich war schon etwas grösser, neun oder zehn vielleicht) im Wartezimmer auf meine Hausärztin. Ich habe sie heimlich verehrt und freute mich - trotz der Schmerzen - über den Unfall, weil er mir die Gelegenheit gab, sie wieder zu sehen. Sie war immer sehr freundlich zu mir und hat sich jeweils viel Zeit für ihre Patienten genommen - jedenfalls für mich, ich weiss nicht, ob das bei allen so gewesen ist.

Auch jetzt fühle ich mich ziemlich allein und verlassen und hätte gern einen vertrauten Menschen wie sie um mich gehabt. Ich nehme mir vor, sie mal wieder aufzusuchen und google ihren Namen.

Sophie:

Langsam neigt sich ein langer und anstrengender Arbeitstag dem Ende entgegen. Ich betrete das Wartezimmer meiner Arztpraxis und rufe den zweitletzten Patienten, einen älteren Mann, auf. Dabei gleitet mein Blick in den Raum und bleibt bei dem anderen Mann kurz hängen, er wird heute dann mein letzter Patient sein. Es ist ein junger, gross gewachsener Mann, der bei meinem Eintreten aufschaut, wobei sich unsere Blicke treffen. In diesem Augenblick wird sein Blick ganz weich und warm, und ich erwidere ihn mit einem Lächeln. Irgendwie kommt mir der Junge bekannt vor, aber ich kann in diesem Moment nicht sagen, woher ich ihn kenne.

Der ältere Mann ist schnell versorgt, er hat sich einen Hexenschuss eingefangen und bekommt von mir ein paar schmerzlindernde und entspannende Spritzen, worauf er die Praxis sichtlich erleichtert wieder verlassen kann.

Ich kehre zurück zum Wartezimmer und überlege immer noch, woher ich den Mann, der hier auf mich wartet, kenne.

Ich trete ein, halte ihm meine Hand hin und sage: “Guten Tag, mein Name ist Marchand, Herr…”. Der Mann erhebt sich von seinem Stuhl, und ich staune, wie geschmeidig er sich trotz seiner Grösse von geschätzten zwei Metern bewegt. Als er vor mir steht, muss ich trotz meiner 178cm den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können. Sie schauen mich wieder mit diesem warmen Blick an, als er meine Hand ergreift und mit einem leicht verlegenen Lächeln erwidert: “Nennen Sie mich doch einfach Yacine.”

In diesem Moment erinnere ich mich: Als junge Ärztin habe ich etwa zwei Autostunden von hier in einer Praxis gearbeitet. Yacine war damals noch ein Junge, den ich das eine oder andere Mal behandelt habe. Er war schon als Kind ein ausnehmend hübscher Junge, etwas scheu, aber ich hatte den Eindruck, dass er immer gern zu mir gekommen ist. Ich habe mir auch das eine oder andere Mal etwas Zeit genommen um mit ihm zu plaudern.

Und noch eine Erinnerung bahnt sich ihren Weg an die Oberfläche.

Als Yacine noch ein kleiner Junge war (ich schätze, er war ungefähr 7 Jahre alt), musste er mit einem schweren Schickalsschlag fertig werden. Damals hat sich nämlich seine Mutter das Leben genommen. Niemand hat das verstanden, sie wirkte immer so ruhig und kontrolliert. Was muss nur in ihr vorgegangen sein, wie verzweifelt musste sie nur gewesen sein, ihre Familie und diesen kleinen Jungen, den sie sicher über alles geliebt hat, für immer zu verlassen?

Es macht den Anschein, also ob er mit dem Verlust zurecht gekommen ist. Vor mir steht ein junger, attraktiver Mann voller Selbstvertrauen.

Trotzdem, es wird für ihn und seine Familie sicher eine schwere Zeit gewesen sein.

Yacine schaut mich fragend an, und erst jetzt merke ich, wie ich in Gedanken versunken bin. Ich lächle ihn an und erwidere: “Ach Yacine, sind Sie es wirklich? Ich freue mich so, Sie zu sehen. Und wie gross Sie geworden sind!”

Yacine drückt meine Hand noch einmal und meint mit warmer Stimme: “Ich habe mich auch auf Sie gefreut, ich wollte eigentlich schon länger mal vorbeischauen, jetzt habe ich endlich den Mut gefunden.”

Während wir zum Behandlungsraum gehen, frage ich ihn: “Dann sind Sie gar nicht krank, sondern statten mir nur einen Besuch ab?” Er zögert ein wenig, bevor er erwidert: “Ähm, doch, ich bin schon auch als Patient hier.”

Inzwischen sind wir im Behandlungsraum angekommen und ich fordere ihn auf, sich mir gegenüber auf den Stuhl zu setzen. Ich schaue ihn an, treffender wäre wohl, ich bestaune ihn, bevor ich ihn auffordere: “Yacine, erzählen Sie mal, wo wohnen Sie inzwischen? Und spielen Sie immer noch Volleyball, Sie waren doch so erfolgreich, wenn ich mich recht erinnere, sind Sie deswegen dann weggezogen, um in einer Spezialschule zu trainieren?”

Wieder lächelt er, diesmal etwas stolz, und meint dann: “Ja, das stimmt, inzwischen wohne ich ganz im Süden und spiele dort in der Profiliga.”

Ich staune nicht schlecht: “Wow, Yacine, dann können Sie aber richtig stolz sein auf das, was Sie erreicht haben, ich bin beeindruckt.” Er bedankt sich und scheint etwas verlegen zu sein. Da kommt mir in den Sinn: “Ich habe glaub kürzlich einen Match von Ihnen im Fernsehen gesehen. Haben Sie sich nicht vor Kurzem mal den Kopf gestossen bei einer Verteidigung?” Er schaut mich verwundert an und bestätigt dann: “Ja, genau, das war vor zwei Wochen bei meinem Sprung über die Banden. Lustig, dass Sie das gesehen haben.” “Ja, ich schaue manchmal Volleyball im Fernsehen, weil ich selber auch ganz gern spiele.” Er erwidert: “Dann müssen Sie mal live ein Spiel anschauen kommen, mit der ganzen Atmosphäre in der Halle ist das ganz ein anderes Erlebnis.” “Das mache ich gern mal, danke”, sage ich ihm und möchte wissen: “Ich hoffe, Ihrem Kopf geht es wieder gut?” “Ah, ja, danke, ich hatte eine leichte Gehirnerschütterung, aber die ist inzwischen ausgeheilt.”

“Dann erzählen Sie mir doch mal, was Sie her führt, haben Sie noch eine andere Verletzung?” Ich merke, wie es Yacine etwas unangenehm ist und er nach den richtigen Worten sucht. Ich ermuntere ihn: “Sie brauchen sich nicht zu genieren, Sie können einfach frei von der Leber weg erzählen.”