Eine Geschichte aus dem WWW
"Sanatorium" - schon das Wort klingt nach Greisen mit Gehhilfen, und ausgerechnet dort war ich nun hingeraten, ich, der seinen 30. Geburtstag noch nicht so lange hinter sich hatte. Aber gut, dachte ich, wenn's denn hilft und die Krankenkasse diesen "Urlaub" auch noch bezahlt, dann folge ich halt dem Rat meines Hausarztes. Denn eigentlich hatte er schon recht: In den letzten 10 Jahren hatte ich rund um die Uhr nur für den Job gelebt, und dabei kaum bemerkt, wie es körperlich abwärts ging. Dass ich keinen Klimmzug mehr schaffe, obwohl ich früher mal 20 am Stück konnte, na gut, damit hätte ich auch weiter leben können. Als dann die Verdauung nicht mehr so richtig wollte, hatte es Monate gedauert, bis ich meinem Arzt von diesen Verstopfungsproblemen erzählte. Und als der dann nach einigen Untersuchungen meinte, das läge einfach nur an meinem allgemein runtergekommenen Muskelstatus, und mir vorschlug, das Problem grundlegend stationär behandeln zu lassen, da habe ich ihn erst mal für verrückt erklärt. Aber als ich ein paar Tage später nach Stunden vergeblichen Mühens auf dem Klo mein blasses, schweißnasses Gesicht im Spiegel sah, da entschied ich: So kann's nicht weitergehen. Und nun bin ich hier, im "Sanatorium für Zivilisationskrankheiten Erlenblick", auf einem Hügel unweit eines Kaffs, dessen Name sich nur meine Fahrkarte merken konnte. Woher mein Hausarzt das nur kannte?
Eines habe ich gleich gestern bei der Ankunft gemerkt: Da sind viel mehr Leute mittleren Alters, als ich dachte. Von wegen nur Greise mit Krücken: Denen zahlt die Krankenkasse vermutlich freiwillig ohnehin nur noch den Sarg. Und so bin ich also nur wenig unter dem Altersschnitt der anderen Patienten.
Und noch etwas habe ich gleich am ersten Tag gelernt: Unterschätze nie die Tücke einer Schwester, weil die jung und lieblich ausschaut. Nachdem der Aufnahmearzt Dr. Henschel meinen Einweisungszettel gelesen hatte, meinte er zu Schwester Julia, einer bestimmt noch unter 25-jährigen, bevor man mein Grundleiden angehen könne, müssten erst mal kurzfristig die Symptome beseitigt werden, und wie nicht anders erwartet, stand Schwester Julia kurze Zeit später an meinem Bett und überreichte mir einen widerlichen Abführtrank - aber diesen Geschmack kannte ich ja schon, von meinen vorangegangenen "Selbstbehandlungsversuchen". Unerwartet kam für mich aber, dass Schwester Julia nach 3 Stunden - der Trank hatte seine mittelmäßige Wirkung längst getan - wiederkam, diesmal mit einem Rollständer, an dem ein gläserner Einlaufbehälter aufgehängt war. Na ja, dachte ich, so einen Einlauf hattest Du auch schon mal versucht, und dieser Behälter fasst nur einen Liter. Schwester Julia hatte an meiner Mimik wohl bemerkt, dass mich der Anblick nicht schockte, und fragte mit einem herausfordernden Unterton: "Na, wie lange werden Sie den Einlauf wohl halten können, nachdem Sie sich schon so schön entleert haben?". Da die Flüssigkeit nicht mal trüb war, ließ ich mich auf die Herausforderung ein, und meinte trocken: "So lange werden Sie bestimmt nicht hier bleiben wollen..."
Hätte ich doch nur den Mund gehalten. Oder wenigstens noch mal richtig hingeschaut. Aber so sah ich eine Sekunde zu spät die Schlieren, die sich an der Grenzfläche zwischen der dünneren (Wasser) und der dichteren Flüssigkeit (Glyzerin!) bildeten. Oh Gott. Da musste ein Viertelliter Glyzerin drin sein! Aber zu spät: Triumphierend nahm Schwester Julia den Behälter vom Ständer, schüttelte ihn etwas, damit sich die beiden Zutaten richtig mischten, und sprach: "Kein Problem, meine Schicht endet erst in einer halben Stunde, und bis dahin habe ich keinen weiteren Auftrag mehr. Und die halbe Stunde nehme ich mir doch gern für Sie Zeit!"
Mein Herz pochte, als mir Schwester Julia das Einlaufrohr in den Hintern schob - das konnte ja furchtbar werden! - aber jetzt kleinlaut eingestehen, dass ich mich da vielleicht doch etwas überschätzt habe... nein, diesen Triumph konnte ich diesem jungen Fräulein nicht auch noch gönnen!
Es wurde furchtbar. Nein, eigentlich noch schlimmer: Nach 2 Minuten konnte ich meine gleichgültig-tuende Miene nicht mehr aufrecht erhalten, nach 7 Minuten wurde aus dem unglücklich schauenden Häufchen Elend ein Grimassen schneidender Jammerlappen und nach 10 Minuten drängte es so unaufschiebbar ungestüm in meinem Darm, dass ich hin- und her wackelnd flehte, mich zu erlösen und entleeren zu dürfen. Ich durfte. Aber nicht, ohne mir den spöttischen Kommentar von Schwester Julia anhören zu müssen:"... und wieder so ein harter Mann, der nicht hält, was er verspricht!"
Nun, das war gestern... eigentlich verständlich, warum mir das schon wie eine Ewigkeit her vorkommt. Heute Morgen hat der Arzt nach Sichtung meiner Akten und einer kurzen Untersuchung lange unleserliche Kugelsschreiberkrakel auf einen Zettel gemalt und den dann der herbeigerufenen Oberschwester gegeben. Diese hat gleich anschließend eine ebenso rätselhafte Abschrift auf dem Stations-PC davon erstellt, ein paar Mal telefoniert und mir dann mit einem undurchdringlichen Lächeln im Gesicht den Ausdruck gegeben, auf dem nun in einer Tabelle Daten, Uhrzeiten und Räume standen, plus eben jenen kryptischen Kürzeln, mit denen ich nichts anfangen konnte. Durch ihre Gestik jeden Zweifel an der Nutzlosigkeit von Rückfragen zerstreuend, teilte sie mir mit: "Begeben Sie sich während ihres weiteren Aufenthalts bei uns jeweils pünktlich zu den angegebenen Uhrzeiten in die genannten Räume, man wird dort auf Sie warten. Und nehmen Sie den Zettel mit!"
Da der erste Termin erst morgen ist, habe ich ja noch etwas Zeit, meine Neugier zu stillen. Mittwoch, 10:15, Raum 511: DG (SK). Ich frage einfach mal den langhaarigen Zivi, der ist bestimmt ein Menschenfreund.
"'DG' - das heißt 'Darmgymnastik', 'SK' ist das Kürzel für Schwester Karin. Da kommt mein Behindertentransport, ich muss weg."
"Darmgymnastik". Klingt wie "Herzsportgruppe". Das ist bestimmt wieder so ein Unfug, wo man mit einem Haufen Fettleibiger zusammen einer Vorturnerin alberne Hampeleien nachmacht, weil irgendwelche Gesundbeter meinen, dass das was bringt. Na toll. Nach den anderen Abkürzungen frage ich wohl besser gar nicht erst, bevor ich jeden Glauben auf Heilung hier verliere...