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Aufrufe: 789 Created: 2013.10.21 Updated: 2013.10.21

Heartbeat

Heartbeat

Eines Tages hatte Lucy Jack von der Arbeit abgeholt. Sie hatte ihm kein Telegramm geschickt, um ihn zu benachrichtigen, dass sie kam, weil sie ihn überraschen wollte. Tatsächlich war es das allererste Mal, dass sie ganz allein mit der Eisenbahn gefahren war. Sie war ein bisschen aufgeregt gewesen und hatte schon befürchtet, sie würde den Zug verpassen oder einen falschen nehmen, aber nichts davon war geschehen. Lucy war recht stolz auf sich gewesen.

Jack hatte in seinem Studierzimmer gesessen und gelesen, als sie in Carfax ankam. Die Überraschung war ihr gelungen. Alle Erschöpfung und Müdigkeit war aus seinem Gesicht verschwunden, als er sie gesehen hatte und er hatte gestrahlt und sie an sich gezogen und geküsst, als ob es nichts Lieberes und Wertvolleres als sie auf der Welt gäbe. Es hatte Lucys Herz erwärmt zu sehen, wie sehr er sich freute. Er hatte ihr Tee gemacht und sie hatte ihm lustige Dinge erzählt und dann… waren sie für die Bahn zu spät dran gewesen und mussten auf die eine Stunde später warten. Da hatte Lucy eine Idee gehabt, verwegen, aber die Gelegenheit dazu käme wohl nicht so bald noch einmal.

„Wollen wir etwas spielen, solange wir warten?“, schlug sie vor.

„Gern. Karten? Irgendwo muss ich auch noch ein Backgammon-Brett herumliegen haben…“

„Ich meine eigentlich eine andere Art Spiel.“ Lucy errötete.

Jack verstand nicht, das sah sie ihm an.

„Ich dachte… eher an so eine Art Theater.“ Jack sah immer noch völlig ahnungslos aus.

„Ich… wir könnten so tun, als sei ich deine Patientin und du… naja… bist der Arzt und ... Schon gut, es war eine dumme Idee, ich wollte nicht...“

Er musste sie tatsächlich für dumm halten, dachte Lucy, für ein ignorantes kleines Mädchen, so etwas in einer Anstalt mit wirklich kranken Leuten zu spielen; aber Jack sah sie nur verwundert, nicht verärgert an.

„Aber warum denn nicht?“ Etwas funkelte in seinen Augen und Lucy wusste, dass sie ihn gewonnen hatte. „Sehr gut. Spielen wir das.“

Er stand auf, ging in eine Ecke des Zimmers, nahm den Kittel vom Haken und zog ihn sich über. Als er zurückkam, sah sein Gesicht verändert aus, distanziert, professionell, wenn auch immer noch freundlich und interessiert. So, wie es seinen Patienten erscheinen musste.

Er setzte sich hinter den Schreibtisch und wies auf den Stuhl ihm gegenüber.

„Bitte, Lady Godalming, nehmen Sie Platz!“ Lucy setzte sich. Es war seltsam, ungewohnt, ihm so gegenüber zu sitzen, mit seinem fremden Gesicht.

„Wie kann ich Ihnen helfen? Welche Beschwerden führen Sie zu mir?“

„Beschwerden….“ Lucy überlegte. Um ehrlich zu sein, sah sie sich nicht imstande, über irgendwelche gesundheitlichen oder sonstigen Probleme zu klagen. Es gab keine. Sie hatte nicht einmal Husten. Außerdem – welche Probleme erzählte man wohl einem Irrenarzt?

„Ängste, Beklemmungen, Wünsche, Träume…?“, half Jack nach. „Alles, was Sie mir erzählen, wird von der ärztlichen Schweigepflicht gebunden. Niemand außer uns beiden wird davon erfahren.“

„Träume…“, sann Lucy. „Ich träume immer, ich bin in Whitby, in den Ferien. Und dort treffe ich nachts… - ein Wesen. Groß, bedrohlich, mit roten Augen. Aber ich habe keine Angst, es ist… irgendwie… aufregend. Es macht Dinge mit mir, vor denen ich mich fürchten müsste, für die ich mich schämen müsste, aber ich tue es nicht. Ich gebe mich hin, und es ist schön.“

Jack tat, als mache er sich in einer Akte Notizen.

„Ich lese hier, dass Sie seit kurzem verheiratet sind?“

„Ja, Doktor.“ Sie nickte.

„Und dass Sie mit drei Männern zusammenleben?“ Er zog die Brauen hoch.

„Ja, Doktor.“ Sie lächelte. Jack blieb professionell.

„Und diese Männer sind jung und kräftig und ... Gesund?“

Lucy erwog, anklingen zu lassen, dass sie sich um den einen manchmal Sorgen machte, was seine Gesundheit anging, beschloss dann aber, dass das Thema zu ernst wäre, daher nickte sie nur bekräftigend.

„Dann sollten sie zusammen doch in der Lage sein, den körperlichen Bedürfnissen einer jungen Frau gerecht zu werden?“

Jetzt musste Lucy lachen. „O ja, das sind sie!“ Jack blieb immer noch ärztlich-distanziert.

„Vielleicht fühlen Sie sich überfordert von ihren Aufmerksamkeiten? Erschöpft?“

Lucy hörte echte Besorgnis aus dieser Frage, deswegen verneinte sie vehement. Es stimmte auch nicht. Wenn sie es sich hätte aussuchen können, hätten sie tagelang zu viert ineinander verschlungen gelegen und wären nie wieder aufgestanden. Aber man musste ja essen. Und dann gab es so etwas wie die Außenwelt mit ihren Terminen und Erwartungen, besonders für Arthur und Jack. Außerdem würde Quincey es sowieso nicht so lange drinnen aushalten.

Jack sah tatsächlich ein wenig erleichtert aus. „Dann sollten Ihre Träume nicht darin begründet liegen.“ Er überlegte kurz. „Ich bin davon überzeugt, dass Träume manchmal unterdrückte Wünsche sind, die man nicht auszusprechen wagt. Und je mehr man sie versteckt und verleugnet, desto häufiger suchen sie einen heim und können zur Qual werden. Mein Rat ist also: wenn Sie geheime Wünsche haben, sprechen Sie mit Ihren Männern darüber. Ich bin sicher, Sie werden nicht zögern, Sie Ihnen soweit als möglich zu erfüllen.“

Ja, zum Beispiel Doktor spielen, dachte Lucy belustigt. Jack fuhr fort: „Aber vielleicht gibt es in Ihrem Fall auch organische Ursachen, etwa eine beginnende körperliche Krankheit. Auch das macht sich manchmal im Schlaf bemerkbar. Das sollten wir abklären.“

Er erhob sich, kam um den Tisch herum und geleitete Lucy zu der Liege an der Seite des Zimmers, wo er ihr sich hinsetzen half. Dann zog er einen Spatel aus der Kitteltasche.

„Sagen Sie ‚Ah‘!“

Lucy gehorchte. Er drückte ihre Zunge herunter und betrachtete ihren Rachen. Das raue Holz fühlte sich unangenehm in ihrem Mund an. Dann legte er den Spatel beiseite und tastete eine Weile mit beiden Händen an ihrer Kehle entlang, nahe der Ohren. Er sah sie nicht an dabei, so als müsse er sich konzentrieren. Lucy empfand seine kurzen vorsichtigen Berührungen seltsamerweise als unglaublich erregend, mehr, als wenn er sie gepackt und geküsst hätte.

Jack wendete achtsam ihren Kopf nach beiden Seiten und zog ihn dann weit nach unten bis an ihre Brust. Er hieß ihr, seinem Zeigefinger mit den Augen zu folgen, ohne den Kopf zu bewegen, den er am Kinn festhielt, dann ihre Röcke zu raffen und die Knie zu überschlagen und sich zu entspannen, bevor er mit einem kleinen silbernen Hammer ihre Reflexe testete. Und all das mit diesem ernsten Gesicht und einer berufsmäßigen Stimme, die Lucy neu war, freundlich, aber keinen Widerspruch duldend. Sie kam sich allmählich ein klein wenig wie eine Marionette vor: „tun Sie dies, tun Sie jenes“, nur von Jacks Händen und seiner Stimme gesteuert. Nicht, dass es unangenehm gewesen wäre – im Gegenteil! Lucy gehorchte ihm nur zu gern, es war, als ob seine kühlen Anweisungen irgendwie einen geheimen Weg in ihren Schoß fanden, wo es plötzlich gar nicht mehr so kühl war. Und wenn er im nächsten Augenblick verlangt hätte: „Jetzt lehnen Sie sich zurück und öffnen Sie ihre Schenkel!“, Lucy hätte es liebend gern für ihn getan. Aber Jack blieb professionell, selbst im Spiel.

„Das sieht soweit alles sehr gut aus, Lady Godalming. Ich würde gern noch ihr Herz und ihre Lungen abhören. Dazu müssten wir aber Ihr Oberteil ausziehen, wäre das möglich?“

Lucy beglückwünschte sich insgeheim dazu, an diesem Tag ein Kleid aus zwei Teilen zu tragen, dessen Oberteil wie eine Bluse einfach vorn aufzuknöpfen war. „Gern.“ Sie löste die Knöpfe an den Handgelenken und dann die auf der Vorderseite und legte das Oberteil ab. Die ungewohnte Luft an ihren Schultern und Armen ließ sie sich trotz Korsett sehr entblößt fühlen, auf eine gute, aufregende Art.

Jack nahm sein Stethoskop aus der Tasche , steckte sich die angerundeten Enden des Bügels in die Ohren und hauchte das Bruststück an, um es zu erwärmen.

„Würden Sie sich bitte halb umdrehen, so?“ Er legte eine Hand an Lucys Schulter, als ob er sie führen wollte. „Gut so.“ Sie fühlte die Berührung des Stethoskops auf dem Teil ihres Rückens, der nicht vom Korsett bedeckt war und wie Jack es an verschiedene Stellen versetzte.

„Tief einatmen. – Und aus. Wieder ein. – Und aus.“, kommandierte er. „Husten Sie!“

Lucy hustete. Es war seltsam, zu denken, dass sie beide in diesem Moment durch dieses Ding verbunden waren, und dass er gerade Dinge über ihren Körper erfuhr, die sie selbst nicht wissen konnte. Es war eine so besondere Verbindung…

„Sie sind aufgeregt, nicht wahr?“, bemerkte er.

„Ja.“

„Ihr Herz schlägt sehr schnell, aber Sie scheinen sonst ganz gesund zu sein. Umdrehen, bitte!“

Sie drehte sich ihm zu und er fuhr an ihrer Brust mit seiner Untersuchung fort. Er lächelte jetzt. Sein Gesicht erinnerte Lucy plötzlich an das von kleinen Kindern, wenn sie an nicht ganz fertig ausgebrüteten Eiern horchen, um die Küken darin piepsen zu hören. Sie liebte ihn, mit diesem schönen entspannten Gesicht.

„Ich fürchte, Sie sind daran schuld, Doktor.“

Er sah sie überrascht an, alle Professionalität aus seinem Blick verschwunden. Es traf Lucy tief, dass ihn das überraschte.

„Darf ich mich auch einmal hören?“, fragte sie daher, um ihn abzulenken.

„Sicher.“

Jack nahm das Stethoskop ab und steckte es vorsichtig ihr in die Ohren. Die Spannung des Bügels war unangenehm, aber ihr eigenes Herzklopfen zu hören, faszinierend. Ein geheimnisvolles doppeltes Pochen, eines immer etwas lauter als das andere, aber ganz regelmäßig. Lucy kam zum ersten Mal in den Sinn, dass ihr Herz ihr ganzes Leben lang, Tag und Nacht, im Wachen und Schlafen, schon immer so geschlagen hatte und ihr ganzes Leben lang weiter tun würde. Und wenn es eines Tages damit aufhörte, musste sie sterben, unausweichlich. Aber solange dieses Geräusch zu hören war, war sie lebendig, ganz und gar lebendig. Sie lächelte, und wusste, warum Jack vorhin so gelächelt hatte.

„Jetzt dein Herz!“, verlangte sie. Er rutschte folgsam etwas näher und knöpfte sein Hemd bis zur Weste auf. Dann nahm er ihre Hand, die das Stethoskop hielt und setzte es sich selbst auf die Brust. Sein Herzschlag klang genau wie ihrer.

Lucy sah ihm in die Augen und hörte sein Herz schlagen, hörte, wie lebendig und wie sterblich er war und wie aufgeregt sie ihn machte. Sie fühlte seine Hand auf ihrer und ihre Hand an seiner Brust, und ihr kamen die Tränen, so sehr rührte es sie. Um sie zu verbergen, küsste sie ihn, lange; und hörte, wie sein Herzschlag sich erst beschleunigte und dann verlangsamte, beruhigt von ihrer Liebe.

Schließlich trennten sie sich.

„Der Zug“, mahnte Jack nach einem Blick auf seine Taschenuhr, knöpfte dann sein Hemd zu und richtete die Krawatte. Lucy kämpfte eine Weile mit den Knöpfen an den Handgelenken, bis er ihr half.

Sie hatten nicht darüber gesprochen, auf dem ganzen Weg nach Hillingham nicht, und auch nicht später. Es gab nichts, das sie hätten sagen müssen oder auch nur können.

Aber sie hatten sich den ganzen Weg an den Händen gehalten, ohne sich loszulassen.

E N D E.