Halloween beim Zahnarzt
die verlassene Praxis
Clara zog den Staubwedel über die leeren Regale des alten Verwaltungsgebäudes. Es war kurz vor Mitternacht, die Gänge lagen im Dunkeln, nur das leise Tropfen irgendwo aus den Rohren störte die Stille. Die oberen Stockwerke standen seit Jahren leer, die Türen verriegelt, die Möbel unter weißen Tüchern verborgen. Eigentlich sollte hier niemand sein – nur sie, ihr Reinigungswagen, das leise Quietschen der Rollen auf dem Betonboden und der kalte Hauch aus den Lüftungsschächten.
Im hinteren Teil des Kellers blieb sie plötzlich stehen. Eine massive Metalltür ragte aus der Wand. Verblasste Buchstaben waren kaum zu erkennen: „Zahnarztpraxis Dr. K. Weigand – Behandlungen nur nach Termin“.
Clara runzelte die Stirn. Sie hatte diesen Raum nie in den Plänen gesehen. Neugier siegte über Vorsicht. Vorsichtig drückte sie die Klinke – die Tür schwang mit einem leisen Knarren auf.
Hinter der Tür lag eine komplett eingerichtete Zahnarztpraxis aus den 1970ern. Orange-braune Fliesen, kunstlederne Stühle, emaillierte Lampen. Der Geruch von Desinfektionsmittel mischte sich mit dem von Öl und kaltem Metall. Auf dem Schreibtisch lag ein Terminkalender. Clara zog ihn hervor – der letzte Eintrag: 31. Oktober 1973.
Neugierig schlich sie in einen der Behandlungsräume. Die Tür stand offen und in der Mitte thronte ein großer Behandlungsstuhl mit großen Armlehnen.
Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Auf einem Tablett davor lagen säuberlich bereitgelegte Behandlungsinstrumente, die noch feucht und sauber glänzten, als wären sie gerade erst desinfiziert worden. Dann fiel ihr Blick auf eine Patientenakte im Schreibbereich neben dem Behandlungsstuhl – und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Darin stand ihr eigener Name, ihr Geburtsdatum, sogar ihre aktuelle Adresse.
Clara spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog. Die letzten Jahre hatte sie ihre Zahnvorsorge immer wieder aufgeschoben, die Schmerzen ignoriert, die kleinen Risse und Verfärbungen übersehen. Ein Schuldgefühl nagte an ihr wie unsichtbare Karies.
„Was zum…?“ flüsterte sie, ihre Stimme klang hohl in dem Raum. Als sie zur Tür zurück wollte, fiel diese plötzlich mit einem metallischen Schlag ins Schloss. Panik stieg in ihr auf. Sie rüttelte, drückte, schlug gegen das kalte Metall – die Tür blieb fest.
Aus einem alten Lautsprecher in der Decke drang eine klare, tiefe Männerstimme:
„Bitte nehmen Sie im Behandlungsstuhl Platz, Frau Meier. Die Kontrolle beginnt gleich.“
Ihr Mädchenname. Seit Jahren hatte sie niemand mehr so genannt.
Irgendwas zog schob sie in Richtung der Mitte des Raumes - sie konnte sich dem nicht widersetzen. Ihr Herz schlug heftig und ihre Knie wurden weich, als sie schließlich vor dem großen Behandlungsstuhl stand. Sie sträubte sich, aber ihr Wille schien keine Kontrolle über ihren Körper mehr zu haben. Wie in Trance setzte sie sich in den Stuhl und legte ihre Arme auf die großen Armlehnen.
Ihr Herz raste, doch ihre Arme und Beine gehorchten nicht mehr. Sie wollte aufspringen, den Stuhl verlassen, aber etwas hielt sie fest – unsichtbar, wie kalte Finger, die sich um ihre Gelenke legten. Gleichzeitig war es, als hätte ihr Verstand keine Kontrolle mehr. Es war fast wie als Kind, wo sie am liebsten aus dem Behandlungsstuhl geflüchtet wäre, aber nicht in der Lage war, sich den Anweisungen ihrer Mutter und dem Zahnarzt zu entziehen und damit notgedrungen sitzen blieb.
Dann sah sie ihn.
Im Spiegel an der Wand erschien der Zahnarzt – das unscharfe Gesicht, das unnatürlich breite Lächeln, die ruhigen Hände in weißen Handschuhen. Die Reflexion offenbarte ihr: er stand direkt hinter ihr.
Sie drehte hektisch ihren Kopf - Niemand! Der Raum war leer, außer ihr war hier niemand.
Clara starrte in den Spiegel, unfähig, sich zu rühren. Sie versuchte zu sprechen, stotterte unverständliche Silben, als plötzlich ein Aggregat im Inneren der Behandlungseinheit ansprang. Der Stuhl erwachte zum Leben: die Lämpchen an der Bohreinheit leuchteten auf, ein kurzes Zischen von Druckluft an der Assistenten-Einheit, unter ihr das typische 50-Hertz-Brummen elektrischer Geräte.
Ihr Blick zuckte nach links, als der Becher im Spuckbecken sich langsam plätschernd mit Wasser füllte. Als nächstes blendete sie ein helles Licht. Sie kniff die Augen zusammen, um trotz der auf ihr Gesicht gerichteten Untersuchungslampe etwas erkennen zu können - hoffnungslos. Ihre Umgebung versank in Schwärze, außer des grellen Lichts der Lampe konnte sie nichts mehr erkennen.
Ruckelnd setzte sich der Behandlungsstuhl in Bewegung. Der ganze Stuhl kippte nach hinten, wodurch die Beinablage nach oben fuhr, während sich das Rückenteil nach hinten senkte. Panik ergriff Clara, die nach wie vor unfähig war, sich zu bewegen.
„Bitte öffnen Sie weit, Frau Meier“, flüsterte die Stimme, die jetzt direkt in ihrem Kopf zu sitzen schien.
Ohne, dass sie es verhindern konnte, öffneten sich Ihre Lippen wie von selbst - als würde eine fremde Kraft sie lenken. Clara wollte schreien, doch nur ein gepresstes Keuchen kam heraus. Sie spürte, wie der kalte Luftzug über ihre Zähne strich – und dann begann das Bohren.
Ein schrilles Kreischen, dumpf im Schädel, vibrierend bis in die Knochen. Der Schmerz traf sie blitzartig – hell, schneidend, vibrierend bis in den Schädel.
Dann noch stärker.
Noch näher.
Noch lauter.
Der Schmerz schnitt sich durch alles Denken, steigerte sich, ließ die Luft flimmern. Sie roch verbranntes Material, schmeckte Blut und Metall. Der Stuhl vibrierte, das Licht flackerte, ihre Finger krampften.
Alles verschwamm, die Lichter pulsierten, das sirrende Geräusch ging über in ein tiefes Rauschen.
Dann – nichts mehr.
Nur Stille. Dunkelheit.
Clara fuhr hoch.
Ihr Herz raste. Dunkelheit.
Sie brauchte einige Sekunden, um zu begreifen – sie lag in ihrem Bett.
Der vertraute Geruch ihres Schlafzimmers. Keine Praxis, keine Spiegel, kein Bohrer.
Nur das leise Rauschen der Heizung.
Sie atmete tief durch.
„Ein Alptraum…“, flüsterte sie und lachte nervös.
Sie atmete hektisch, tastete nach der Bettdecke, nach der Lampe, nach irgendetwas, das real war.
Ein Traum.
Nur ein Traum.
Langsam beruhigte sie sich. Was für ein intensiver Traum, dachte sie noch. So intensiv, dass mir sogar noch die Zähne weh tun.
Ein dumpfer Schmerz pochte in ihren Zähnen – zu echt, zu tief.
Sie hielt inne. Vorsichtig tastete sie nach ihrem Gesicht. Alles war da, lediglich ihre Backenzähne taten weh. Ihre Zunge tastete zögernd an einen dieser Zähne und fuhr mit der Zunge die Zahnreihe entlang - und erstarrte!
Etwas fühlte sich seltsam an – glatt, zu glatt, als wären die Zähne neu modelliert. Und da war dieser Geschmack.
Metallisch. Kühl.
Wie Amalgam.
Sie richtete sich langsam auf, ging ins Badezimmer und knipste das Licht an. Das Neonröhrenflimmern war grell.
Clara beugte sich näher zum Spiegel. Ihre Pupillen waren weit, der Atem beschlug das Glas. Sie öffnete den Mund.
Reihen silbrig-grauer Füllungen blitzten im Licht.
Sehr schön !!! Mega