Die Erziehung der Klavierschülerin
Der Furor des Lehrers und Herrn
Er nannte es seine prophetische Hymne, die zu singen wäre. „Veni Creator!“ Er nannte es ihre Prozession, der sie beizuwohnen hätte. “Begrabt Euren Hader!” Er nannte es Tyrannei ihrer Leidenschaften, ihrer Laster, ihrer Niederungen. „Oh Herr, befreie uns von unseren Sünden!“ Ach, sie sollte die Morgenröte der Freiheit von ihren Freveln feurig begrüßen. So dachte er, hoffnungsvoll zu Beginn jeder Stunde, so dachte er, traurig, schwitzend, keuchend, erschöpft, am Ende, wenn ihr die Hymne voller Inbrunst gesungen ward, wenn seine Gesichtsfarbe kränklich wurde, wie leidend, und seine Wangen schlaff.
Feurig waren dann einzig ihre Halbkugeln, einst so blütenweiß und unbeschrieben, feurig und flimmernd jetzt, eine Prozession der Wandlung, hin zu den Antworten. Er aber blieb fragend zurück. Warum nur blieb er enttäuscht? Lag es daran, dass sich kaum etwas änderte? Dass das ihm (und ihr!?) so hart werdende Zeremoniell nur äußerliche Spuren hinterließ? Hatte er sie nicht durchsucht und durchstreift wieder und wieder nach der Messe, da sie vor dem Altar kniete oder auf dem Büßerbänkchen hockte oder über seinen weihevollen Knien lag, um die getilgten Zeichen ihrer Aufsässigkeit, ihrer Auflehnung, ihrer Schwäche zu finden? Und dann? Dann musste er feststellen, wieder und wieder, dass die Schwäche das so provozierende Vergnügen empfand (empfinden musste! denn die Indizien waren untrüglich), den Starken mit der ihr eigenen Lust zu demütigen.
„Waaaaaas? Reicht Ihnen das Ave Maria nicht?“, donnerte er dann, sich aufbäumend, nicht glaubend, was Auge und Finger sahen. Und er zwang sie erneut hinab, seine öffentliche Moral zu empfangen, mit gereckten, gestreckten, klaffenden Backen dieses Mal, in der Hoffnung sie würde seine Lektionen endlich als das annehmen, was sie waren: Als reines Geschenk, als bewilligte und hilfreiche Gunst, als Privileg! Und er trug ihr auf, mitzusingen „Aller Augen warten auf Dich, Herr!“, „Brunn allen Heils, Dich ehren wir“ und „Dank sei Dir, Herr, durch alle Zeiten“ im Takt und Schwung seiner Handreichungen, „Der“ - klatsch! - „Gottesdienst“ - zutsch! - „soll“ - patsch! - „fröhlich“ - klatsch! - „sein“. Und noch einmal! Und noch einmal! Hatten sie es nicht schon geübt, das „Der Herr ist mein Hirte“? Und wohin, ja wohin, gehört der Hirtenstab? Nein? Neeeein?? Also von vorn. Also noch einmal. Und wenn das Klavier schon stumm bleiben muss dabei, weil sich die Fingerchen woanders beschäftigen, weil sie flach auf dem Boden liegen beispielsweise oder die Hockerfüße oder die Fußfesseln oder die Sessellehne umfassen, dann soll sie wenigstens singen zum singenden und klingenden Spiel seiner Rute, „Du Glanz aus Gottes Herrlichkeiten!“, zu seinem klopfenden Bürsteninstrument, „Erd und Himmel sollen singen!“, zu seinem schwirrenden Fidelbogen, „Es segne und behüte!“, zu seinem klopfenden Teppichsäuberer!
„Freu“ - aaaah! - „Dich“ - auuu - „meine“ - „biiitttte“ - „Seele“ - „neeein!“. Und noch einmal. Und noch einmal. Die Stimme höher, ja, das zweibackige Notenbuch auch! Ich will es singen hören und ich will es vibrieren sehen, ja, vibrieren bei der Annahme meiner Privilegien, die ich gewähre mit schwerer Hand, mit Rohrstock, mit Reisigbündel, mit peitschendem Metronom! Nehme also, da!, und hier! und dort! Nimm! Und zucke fröhlich. Ja, auch Dein dargebotenes Löchlein soll empfangen. Zack! Es schmeckt ihm nicht? Nein? Dann probiere noch einmal! Wie es sich kräuselt, wie es sich zurückzieht, wie es sich klein macht! Und sing! Sing! Ja, es soll klingen aus allen Kehlen! Auf allen Vieren! Rittlings auf dem Klavierschemel! Über den Schoß! Auf den Rücken mit herangewinkelten Beinen! „Du Glanz aus Gottes Herrlichkeiten!“ Dafür, nein dafür müssen Sie sich nicht schämen, nicht d-a-f-ü-r! Nicht für diese Prozession vom Teppich auf die Sesselkante auf den Schoß auf den Hocker, nicht für diese Rosetten-und-Spalt-Blößen, nicht für den Flaum, nicht für das Klaffende, nicht für die rosaschwellenden Lippen, die zuckenden Füße, die rollenden Augen, die tropfenden Tränen, nein, nicht für den Glanz dieser Gottesherrlichkeiten!
Doch - „zutsch!“ - schämen sollen Sie sich - „zack!“ - für die Widerspenstigkeit - „klatsch!“ - für die Nachlässigkeit - „patsch!“ - für den Unwillen, jaaaa, den Unwillen - „patsch, zutsch, klatsch!“ - nicht zu gehorchen, nicht zu erhören, nicht anzunehmen die Rat-„wutsch!“-schläge des Herrn! Und schämen auch für die so ungebührliche fehlende Ernsthaftigkeit: Nicht seine Liebe soll sie fühlen dabei, sondern seine Strenge!