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Die Erziehung der Klavierschülerin

Die Schülerin erhält ihre Lektion

Was nicht alles haben die Musiker, die Komponisten, die Harmoniker zwischen die Kunst und ihre Klavierversuche gestellt? Rhythmische Übungen. Gehörbildung. Akkord-Symbolschrift. Notenlesen. Harmonielehre. Improvisation. Eine endlose Liste, und kein einziger Punkt auf der Liste schien verheißungsvoll. War es denn wirklich alles Strafe? Oder hatte sie nicht vielmehr etwas missverstanden, gründlich missverstanden? Ihr Lehrer sprach von all den Toren, die durchschritten werden mussten, dozierte, erklärte, hochrot im Gesicht, vor Anstrengung, weil er sich konzentrieren musste, weil er mit hocherhobener Hand ihr taktschwingend das Gehör bildete. Klatsch. Klatsch. Klatsch. Und im Akkord ihr Symbole und geheimnisvolle Schriftzeichen beibrachte.

Sirr-patsch-sirr-patsch-sirr-patsch. Und mit ihr improvisierte, ihr die Kunst der verschiedenen Haltungen und der verschiedenen Längen und der verschiedenen Instrumente beibringen würde. Wutsch. Aaaaaah! Zisch. Ooooh! Klatsch. Ach biiiitte. Was bloß hatte der Herr nicht alles erfunden? Den Klavierhocker, den es rittlings zu umfassen galt, war nur der Anfang der Lektion. Und nicht einmal diesen Anfang beherrschte sie, weil ihr der Kopf schwirrte vor Aufregung und Scham ("'Fräulein! Scham muss man sich verdienen! Scham setzt Würde voraus und Würde wird mit Leistung, mit Pflichterfüllung, mit andächtiger Hingabe errungen!"). Ihre Hände zitterten gar, wenn sie tief nach unten gebeugt ihr Seelenheil darbrachte, "es ist, dass das Notenpapier rein und blank sein muss", rief er dann mächtig und gar nicht mehr zischelnd, "es ist aufgeschlagen darzureichen!", forderte er, "es ist im Notenbuch nur zu schreiben und zu lesen, wenn es offen vor einem liegt!", erklärte er.

Und mit Nachdruck klappte er den Rock nach oben, faltete den Wollstoff über ihrem Rücken, verlangte Ruhe, verbat sich Zappelei, "das hat noch niemanden geschadet!", versicherte er, "hat der Herr nicht Licht in das Dunkel gebracht?", fragte er, und ganz nah an ihrer tränenglitzernden Schläfe, an ihren Augen, die nichts anderes als die Maserung des Fußbodens studierten wollten, "hat er? wieso höre ich nichts?", flüsterte er nun in ihr Ohr, jede Silbe stimmlos betonend: wie-so-hö-re-ich-nichts?, ja, nein, oooohneeein, nicht, bitte, nein, kein Licht, nicht dieses, nicht, und während sie noch haspelte und sich widersprach in ihren wie nach innen gerichteten Überlegungen, was der Herr schuf, als er schöpfte, ringelte sich das letzte Stück weiße Hülle ihre Schenkel entlang, ringelte sich zur paradiesischen Schlange, ließ Licht und Erhellung auf ihr Buch der Bücher fallen, ließ die unbeschriebenen Seiten, links und rechts, aufgeschlagen und blütenweiß und sich rundend darbieten, und die Erde hätte nicht tief genug sein können für sie, um darum zu versinken.

Stattdessen nur die Maserung der Eiche vor ihrer Nase und die Mahnung, sich nicht zu erdreisten, nun die Haltung zu verlieren, "Fräuleinchen! heute noch lassen wir es so durchgehen!" und während sie noch überlegt, was denn dieses 'so' zu bedeuten habe, was zwei so kleine Buchstaben sagen sollen, knarren seine Schritte, drei-vier, über die Dielen, holen den Taktstock, holen den gut geölten, den gut vorbereiteten, den schon wartenden Notenschreiber, und sie denkt krampfhaft an das 'so', an die zwei Buchstaben, um sich abzulenken von den anderen Buchstaben, die sie dem Herrn lichtreinweiß darbringt, auf dass er sie ordnet mit fleißiger Hand, mit kraftvoller Geste, mit -au!- "eins" bestimmender Strenge, mit -aaah!- "zwei" väterlicher Güte, mit -aaaiii!- "drei" -aaach!- "vier" -oooiii!- "fünf" göttlichem Nachdruck.

'Fünf' so bestimmt er, fünf wie die Finger der väterlichen Hand, fünf wie die schöpferisch gestalteten Wochentage, fünf wie die Zahl der uns gegebenen Sinne, sollen reichen für heute, sollen Lektion genug sein, hört sie, rittlings über dem Schemel, hört sie und denkt: "Was meint das 'so'? Was meint das 'für heute'?" und hört ihr Blut in den Adern pochen, und hört im Widerhall noch einmal ihre spitzigen, hilflosen, überflüssigen, nichts verhindernden, nichts klärenden Schreie, während die Rute auf ihren entblößten Backen landete, hört seine Feststellung, dass sie nun sich an das Notenlesen machen dürfe, sie also aufstehen und mit geringeltem weißen Stoff um ihre Knie und mit eigenen Händen gefasstem Rock in ihr rückwärtiges Antlitz schauen dürfe dort in der Ecke, dort, wo Narziss über dem Spiegel schiele, und aufmunternder: "Fräuleinchen, worauf warten Sie? Die Noten werden verblassen, und wir wollen doch, dass sie gelesen werden, jetzt, nicht wahr, da sie noch frisch sind und einprägsam!"