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Die Erziehung der Klavierschülerin

Wer nicht üben will, muss fühlen

Ach, tatsächlich, hatte der Herr den Weltenrund nicht in sieben Tagen erschaffen?! Hatte er nicht all das, was da kreuchte und schlang und sich vermehrte und grünte und atmete geschöpft in wenigen Tagen? Die Nachtigall, die schluchzte, die Feldlerche, die jubilierte, die Spatzen, die im Chor tschilpten, die Amsel, die melodienreich flötete? Und sie? Versagte bei der einfachsten Tonleiter. Versagte bei den einfachsten Fingerübungen. Versagte beim Anblick des weißschwarzen Bandgewirrs vor ihren Augen. Verkrampfte, verkrümmte, hielt inne, hörte kein A, kein B, kein C mehr, nur noch das stumpfe Atmen ihres Lehrers, welches mit jedem Neuanfang und jedem Abbruch länger und hörbarer wurde, bis es ganz nah an ihrem linken Ohr zischelte wie eine Schlange, wie ein kaltes, spaltäugiges Reptil, welches im Paradies doch noch so verführerisch wirkte, jetzt aber fitschte und zirrte die ausgestoßene Luft ihres Meisters ganz anders als verführerisch. Sie hatte einen ungeduldigen Doppelpunkt vor Augen, etwas, was sie drängte zur Eile und zu Fortkommen und Erfolg.

"Ich versuche es noch einmal", flüsterte sie. "Jetzt klappt es bestimmt", versicherte sie. "Ganz bestimmt", lispelte sie. Mit gesenktem Kopf und verkrampften Händen. Aber statt sich auf das A und das B und das C zu konzentrieren, konzentrierte sie sich auf das länger und längergezogene Gezischel an ihrem linken Ohr, aus dem sie leise, ganz leise, aber immer deutlicher herausbuchstabieren konnte: "Sie hat nicht geübt! Sie hat gar nichts geübt! Sie will mich an der Nase herumführen, das werte Fräulein! Nicht die leichteste Fingerübung gelingt ihr, weil sie nicht übt. Nicht übt. Nicht übt." Und ihre Augen füllen sich mit Tränen, mit glitzerndem salzigem verzweifeltem Wasser, weil sie doch geübt hat. Oh, was hat sie sich gemüht! Hat die Finger links und rechts laufen lassen, hat wiederholt und wiederholt, bis ihr Rücken schmerzte und die Beine schliefen und die Handgelenke knarzten. Oh, sie wollte es ihrem Lehrer doch recht machen, wollte zeigen, dass sie Fingerübung und Notenlesen ernst nahm, mit Fleiß und Hingabe und Arbeit ernst nahm. "Sie hat nichts, nichts geübt. Sie glaubt, mich veralbern zu können! Aber nun werden andere Saiten aufgezogen. Nun wird sie andere Fingerübungen kennen lernen! Ein anderes Notenlesen!" Und ach, tatsächlich , der Herr hatte nicht nur die singenden und jubilierenden und schmachtenden Vögelchen erschaffen, sondern auch die singende Haselrute und den schmatzenden Birkenzweig und den klatschenden Bambusstock und die sirrende Ahorngerte und zu den Taktinstrumenten hatte er die ordinierende Hand und das zu beschreibende Notenpapier und den klatschenden Applaus hinzugefügt!

Wer nicht üben will, muss fühlen. Sagte er nicht so etwas, als sie mit unvermittelt hochgeklapptem Rock und beringter und befleckter Hand im Nacken zum schwarz lackierten Musikinstrument gedrückt, gebeugt, gestreckt den Taktstock dort mit scharfen Streichen spürte, wo sie sonst nur Flanell und diverse Sitzgelegenheiten fühlte? Sagte er nicht, dass er nun eben improvisieren müsse, dass sie schon noch lernen würde, sich hinzugeben? Und noch bevor sie die Worte und den dazu hinterrücks einsetzenden klatschenden Applaus in Einklang bringen konnte (was war Auslöser, was war Folge?), saß sie schon wieder aufgerichtet auf dem Schemel, glätteten ihre Hände wie von allein den karierten rauen Stoff ihres Rocks, tropften die Tränen, benetzten die Wangen, die Tasten, die Fußboden wohl auch. Aber warum kullerten denn die Tränen? Was war geschehen? Warum zogen ihre Hände den Stoff ihres Rockes so nach unten, so glatt, so lang, so schützend? Ach, tatsächlich, hatte der Herr am ersten Tag nicht das Wort und das Licht in die Welt gebracht? Ihr zur Erleuchtung? Zur Wegweisung? Zur Hilfe? Und sie schämte sich, schämte sich vor ihrem Herrn, dass er sie erleuchten musste, schämte sich tränennass und wusste nicht, wohin schauen als gesenkt auf die Tastatur, während er leise seufzte, wie hadernd, wie im Anblick schwerer Pflicht: "Also, noch einmal von vorn." Und leiser noch, in sich hinein: Sie wird diese Noten noch zu lesen wissen.