Mareike und Karl
Plötzlich Zahnschmerzen
Der Flur war fast leer. Die meisten Schüler waren schon lange nach Hause gegangen, der Putztrupp hatte eben erst angefangen, das Erdgeschoss zu wischen. Aus dem Kunstraum am Ende des Flurs drang schwaches Licht. Karl war noch da, weil er in der Schülerzeitung mitarbeitete – er hatte die Aufgabe übernommen, die letzten Ausdrucke für das neue Layout an die Pinnwand zu hängen.
Als er den Tacker gerade zurück ins Büro brachte, hörte er Schritte – dann ein unterdrückter Laut. Ein leises Stöhnen.
Er sah sich um – und da stand Mareike. Oder vielmehr: lehnte an der Wand, die Stirn in Falten gelegt, eine Hand an der rechten Wange.
„Mareike? Alles okay?“
Sie blickte auf, überrascht, und versuchte zu lächeln.
„Ach… hey. Ja. Nur… ich glaub, mein Zahn… irgendwas stimmt nicht. Seit vorhin zieht’s rein. Richtig fies.“
Karl kam näher. Ihre Haltung war angespannt, der Blick leicht glasig.
„Tut’s durchgehend weh oder nur beim Kauen?“
„Eigentlich ständig. Es pocht. Hinten rechts, glaub ich. Da, wo…“
Sie stockte.
„…der Zahnarzt letztens gesagt hat, da wär was“, beendete Karl vorsichtig.
Sie nickte kleinlaut. Dann verzog sie das Gesicht, als der Schmerz wieder stärker wurde.
„Hast du ’ne Schmerztablette?“ fragte er.
„Nee. Ich dachte… es geht weg. Aber es wird schlimmer. Ich will eigentlich nicht allein zum Zahnarzt.“
Ein kurzer Moment des Zögerns. Dann, fast schüchtern:
„Würdest du vielleicht mitkommen? Ich mein… einfach… da sein?“
Karl sah sie an. In diesem Moment war von der sonst so selbstsicheren Mareike nichts übrig – nur ein Mädchen mit Angst und pochendem Schmerz.
„Klar. Natürlich. Ich komm mit.“
***
Mareike saß im Behandlungsstuhl, blass, die Lippen fest aufeinandergepresst. Karl hatte einen Platz am Rand des Raums bekommen. Er fühlte sich fehl am Platz, aber sie hatte ausdrücklich gesagt:
„Bleib einfach da, okay?“
Die Lampe über dem Behandlungsstuhl war grell. Karl saß auf dem Besucherstuhl nahe der Tür – unauffällig, aber präsent. Die Ärztin, Dr. Becker, Mitte fünfzig, souverän, hatte rasch einen Überblick gewonnen. "Sie sollten bald einen Termin bei Ihrem Zahnarzt machen, ich sehe hier etwa 5 oder 6 kariöse Zähne. Trinken Sie viele Softdrinks?"
Mareike nickte. "Bitte tun Sie ihren Zähen einen Gefallen und trinken weniger Zuckerwasser!". Mareike wurde rot und nickte.
„Zahn 17 ist der Übeltäter mit einer tiefen Karies. Die behandeln wir jetzt, sonst gehen die Schmerzen nicht weg. Ich werde jetzt erst einmal betäuben.“
Sie setzte die Lokalanästhesie mit routinierter Geste. Mareikes Gesicht verzog sich leicht, als die Kanüle in die bewegliche Schleimhaut an der hinteren Oberkieferregion einstach. Karl konnte den Blick kaum abwenden. Er hatte das noch nie bei jemanden gesehen.
„Wir warten kurz, bis es wirkt“, sagte die Ärztin und prüfte dann vorsichtig mit einem stumpfen Instrument die Sensibilität. Mareike nickte, als Zeichen, dass sie nichts mehr spürte.
„Jetzt bitte ganz ruhig liegen. Ich entferne nun die Karies, das kennen Sie ja schon.“
Das Geräusch des Turbinenbohrers setzte ein – hochfrequent, schneidend, begleitet vom Sprühnebel des Wasserstrahls. Karl zuckte kaum sichtbar zusammen. Mareike lag stocksteif, die Augen weit geöffnet, auf einen imaginären Punkt an der Decke fixiert.
Der Bohrer arbeitete sich durch den oberen Zahnschmelz, dann durch das darunterliegende, weiche, bräunliche Dentin. Kleine Fragmente spritzten zur Seite, wurden vom Sauger abgesogen. Ein feiner Geruch nach erhitztem Zahnmaterial hing in der Luft – scharf, süßlich, fast wie verbranntes Horn.
„Es ist tiefer als gedacht“, murmelte die Zahnärztin, halb zu sich selbst, halb zu der anwesenden Assistenz.
„Aber der Nerv ist noch vital. Kein Eröffnen nötig.“
Sie wechselte auf einen Handinstrumentensatz. Mit einer scharfen Exkavatorspitze kratzte sie sorgfältig das letzte Restmaterial aus der Kavität. Karl hörte jedes Kratzen, sah, wie sich das kleine Metallinstrument in das Zahninnere schob.
Dann bereitete sie die Füllung vor.
„Wir machen eine einfache Amalgamfüllung, das ist in dem Bereich am besten. Hält lange, auch bei tiefer Belastung.“
Sie trocknete den Zahn ab, legte eine Matrize an und stopfte das vorbereitete Amalgam – silbrig glänzend, leicht körnig – Schicht für Schicht in die Kavität. Mit einem Stopfer presste sie es fest hinein, modellierte dann mit einem glatten Spatel die Kaufläche grob vor.
„Jetzt beißen Sie vorsichtig zusammen – ja, so – und wieder öffnen.“
Ein kurzer Check mit der Artikulationsfolie zeigte, wo noch etwas zu hoch stand. Dann folgte das Einschleifen, erneut mit einem leichten Bohrgeräusch. Schließlich polierte sie die Oberfläche auf Glanz.
„Füllung ist drin. Sie kann sofort wieder kauen – aber heute besser noch nichts Hartes. Und, wie versprochen: keine Cola.“
Mareike sagte nichts. Sie lag noch immer mit geöffnetem Mund da, der Blick nach oben. Dann kam ein langsames Nicken. Die Ärztin lächelte ihr beruhigend zu, nahm die Handschuhe ab.
Karl hatte währenddessen keinen Laut gesagt – nur beobachtet, ruhig, aufmerksam. Als Mareike sich langsam aufrichtete und zur Garderobe ging, blieb er zurückhaltend auf Abstand. Sie nahm ihre Jacke, setzte sich die Kapuze auf, als wolle sie sich einhüllen.
Er trat näher.
„Geht’s dir besser?“
„Ja. Also… es tut nicht mehr weh. Nicht so.“
Sie sah ihn kurz an, dann wieder weg. Eine Pause entstand.
„Danke, dass du da warst. Ehrlich.“
Er lächelte.
„Kein Problem. Ich wollt einfach… helfen.“
Dann sah sie ihn mit einem Ausdruck an, den er nicht ganz einordnen konnte. Zwischen Rührung und Unbehagen.
„Aber bitte… sag niemandem was, ja? Ich mein… das war mir jetzt schon peinlich genug. Ich sah aus wie ein Häufchen Elend.“
„Ich würd das nie sagen“, sagte Karl sofort.
Sie nickte knapp.
„Gut. Ist echt lieb von dir. Aber… es bleibt besser unter uns.“
Sie ging ein paar Schritte, dann drehte sie sich noch einmal um.
„Ich bin froh, dass du da warst.“
Dann verschwand sie durch die Glastür in den abendlichen Straßenverkehr.
Karl blieb stehen, das Summen der Neonröhre über ihm. Noch immer spürte er das Rattern des Bohrers in den Ohren.
Schön geschrieben!