Mareike und Karl
Der Schulzahnarzt
Die improvisierte Zahnarztstation in der Aula war klinisch hell, steril und fremd. Drei zusammenklappbare Stühle, Rollwägen mit Instrumenten, eine grelle Stehlampe, die aussah, als gehöre sie in einen OP-Saal. Und mittendrin: Karl – mit leicht feuchten Händen und einem Klemmbrett in der Hand.
Daneben saß Mareike Schrader im Stuhl, das Gesicht von einem neutralen Lächeln überzogen, das bei näherem Hinsehen einen feinen Sprung hatte. Sie wirkte angespannt – obwohl sie versuchte, es nicht zu zeigen. Ihre Beine überschlagen, die Hände fest ineinander verschränkt.
„Ich mag das gar nicht“, murmelte sie leise, während der Zahnarzt sich die Handschuhe überstreifte. „Ich tu immer so… aber eigentlich krieg ich hier drinnen Panik.“
Karl drehte sich zu ihr.
„Echt? Du wirkst total ruhig.“
Sie verzog leicht den Mund. „Das ist der Trick. So tun als ob.“
Dann kam der Zahnarzt heran. Ein ruhiger Mann mit Halbglatze und einer Stimme, die alles schon mal gesehen hatte.
„Gut, wir fangen oben an. Karl, halten Sie bitte das Licht und notieren Sie die Befunde.“
Karl stellte sich neben den Stuhl, das Klemmbrett bereit.
Der Zahnarzt nahm den Mundspiegel und eine dünne, gebogene Sonde, führte sie vorsichtig in Mareikes Mund. Das Kratzen auf dem Zahnschmelz klang in der stillen Aula viel zu laut.
„Oben rechts: Zahn 16 – Amalgamfüllung, okklusal, keine Auffälligkeiten. Zahn 17 – mesial-okkusal kariös. Sonde bleibt deutlich hängen.“
Dann hielt der Zahnarzt kurz inne und wandte sich an Karl.
„Möchten Sie mal selbst tasten? Ist eine gute Gelegenheit.“
Karl erstarrte.
„Äh… ich?“
„Nur vorsichtig. Ich zeig es Ihnen.“
Der Zahnarzt reichte ihm die Sonde, legte seine Hand leicht über Karls Finger, führte ihn an den entsprechenden Zahn.
„Sehen Sie? Führen Sie die Sonde hier entlang… genau… und jetzt leicht nach unten drücken.“
Ein leises Klack – die Spitze blieb in der rauen Oberfläche hängen.
Karl spürte, wie Mareike unter der Berührung leicht zusammenzuckte, aber nichts sagte. Er zog die Sonde sofort zurück und trat wieder zur Seite, das Herz pochte ihm bis in den Hals.
„Das ist, was wir meinen, wenn wir sagen: tastbar weich, Hakenprobe positiv“, erklärte der Zahnarzt nüchtern. „Weiter im Unterkiefer.“
Die Untersuchung ging weiter – spiegelnd, tastend, ruhig kommentierend:
„Unterkiefer rechts: Sechser – große Amalgamfüllung, Rand auffällig, fraglich Sekundärkaries. Siebener – kariös. Achter retiniert, tastbar unter Schleimhaut.“
Mareike zuckte leicht, als die Sonde gegen das Zahnfleisch tippte.
„Tut das weh?“ fragte der Zahnarzt ruhig.
„Nein… also… ein bisschen empfindlich“, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln.
„Links unten: Sechser – Füllung intakt. Siebener – Karies, noch recht klein. Achter fehlt.“
Als der Arzt fertig war, richtete er sich auf, zog die Handschuhe aus.
„Da ist einiges zu tun Frau Schrader, einige neue Karies und die Füllung im Unterkiefer rechts ist undicht.“
Mareike setzte sich langsam auf. Ihre Wangen waren gerötet, nicht nur vom Licht. Ihr Blick war abgewandt, fast beschämt.
Karl reichte ihr das Formular.
Der Zahnarzt sah ihn mit einem leichten Schmunzeln an.
„Jetzt sind Sie dran, junger Mann.“
Karl setzte sich mechanisch. Mareike war noch immer im Raum, nun neben ihm, diesmal als Assistentin.
„Mund bitte auf“, sagte der Arzt.
Sie beugte sich vor, reichte dem Arzt den Spiegel. Ihre Fingerspitzen streiften Karls Hand. Er wagte nicht, sie anzusehen.
Die Untersuchung bei ihm war kurz:
„Zahn 26 – kleine okklusale Läsion, Anfangsstadium. Ansonsten alles unauffällig, die Füllung im 36 ist intakt.“
„Na, das ist doch was“, sagte der Arzt. „Sehr gepflegt.“
Mareike schrieb es sauber auf, dann reichte sie ihm das Formular.
Als sie draussen standen hatte Karl weiche Knie, und das war nicht weil bei ihm ein Loch gefunden wurde.
„Also… du erzählst das bitte niemandem, ja?“
Karl öffnete den Mund, schloss ihn wieder.
Sie lehnte sich ein Stück näher zu ihm.
„Ich weiß, wie Leute reden. Wenn ich Karies hab, ist das nächste Woche Thema in drei Jahrgängen.“
Karl schüttelte sofort den Kopf.
„Natürlich sag ich nichts.“
Mareike lächelte leicht.
„Gut. Weil… du bist irgendwie anders. Ich vertrau dir.“
Dann, ohne Vorwarnung, beugte sie sich vor und küsste ihn auf die Wange – ganz kurz, aber warm. Direkt unter dem Jochbein.
Karl spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Sein Verstand war leer, sein Herz pochte wie wild.
„Danke, Karl.“
Ohne einen weiteren Blick drehte sich Mareike um und ließ Karl im Gang stehen.