Elenas erster Ausbildungstag

Das Nachbeben.

Die Schwester führte Elena wieder durch den Korridor und in ein Zimmer. Es war sehr spartanisch eingerichtet. Es gab eigentlich nur ein - vergittertess - Fenster und ein typisches Krankenhausbett, aber keine Schränke, Tische oder Stühle. Und es gab noch ein Fenster in der Wand neben dem Bett, das aber nicht nach außen führte, und von der anderen Seite mit Jalousienen abgedeckt war. Schwester Meier erklärte, dass nebenan einer der Personalräume sei, und das Fenster der Kontrolle diene. Sie kann aber immer sehen, wenn die Jalousienen geöffnet werden. Weiter erklärte sie, dass das Badezimmer abgeschlossen ist. Wegen der Suizidgefahr darf sie das leider nicht alleine benutzen, aber sie kann jederzeit Klingeln und eine der Schwestern wird ihr aufschließen. Schwester Meier fragte noch, ob Elena noch irgendwas brauche, was diese verneinte. "Ihr Zimmer muss ich auch abschließen, aber sie können jederzeit klingeln", erklärte die Schwester beim heruasgehen und fügte hinzu "Das Mittagessen haben sie verpasst, aber heute abend kann ich ihnen etwas bringen." Sie lächelte Elena nochmals zu, und schloss die Tür hinter sich.

Elena lies sich weinend auf das Bett fallen, als sie hörte, wie die Tür abgeschlossen wurde. Nach dem ganzen Stress mit der Untersuchung wurde sie sich jetzt erst wieder bewusst, in was für einer ausweglosen Lage sie sich befand. Sie saß hier alleine in einem kleine Zimmer in der geschlossenen Psychatrie. Was würde nur aus ihr werden? Würde sie für immer weggesperrt? Bilder aus Horrorfilmen gingen ihr durch den Kopf. Furchtbare Prozeduren, die an ihr durchgeführt werden könnten. Sie stellte sich vor, wie sie fixiert und sediert wird, und Leute ... Dinge ... mit ihr tun. Unbeschreibliche Dinge. Sie schrie laut auf, sprang auf, klopfte gegen die Wände. Sie sah, wie die Jalousien geöffnet wurden, wie einer der Pfeger von nebenan durchs Fenster schaute. Sie beruhigte sich etwas, und setzte sich wieder aufs Bett.

Wie könnte sie nur hier wieder rauskommen. Wenn sie noch länger hier bleiben muss, wird sie bestimmt wahnsinnig - falls sie das nicht schon war. Aber sie versuchte, wieder logisch zu denken: Könnte das Mißverständnis nicht doch noch geklärt werden? Schwester Wagner müsste doch ihre Geschichte bestätigen können. Und der Anwalt? Sie kannte keinen Anwalt, woher auch? Würde sie von hier aus einen Anwalt bekommen können? So vergingen die Stunden bis zum Abend, Phasen der Angst, Wut und Verzweiflung folgten auf Phasen der leichten Hoffnung, logisches Denken auf panisches Gekreische, und apathisches Starren in die Leere. Ein Pfleger brachte ihr das Abendessen, einfache belegte Brote, dazu ein Tee. Sie brachte kaum etwas hinunter, nur ein paar Bissen, aber den Tee trank sie aus. Der Rest des Abends verlief genau wie der Nachmittag. Am späten Abend betätigte sie dann doch die Klingel, bat um ein Glas Wasser, was ihr auch sofort gebracht wurde - allerdings in einem Pappbecher.

Während der Nacht brachte sie kaum ein Auge zu. Immer wieder sah sie, wie das Licht vom anderen Zimmer durchschimmerte, wenn jemand durch die Jalousinen schaute, um zu kontrollieren, ob sie nicht irgendwas Dummes tat. Ihr gingen immer wieder die Situationen durch den Kopf, als sie sich nackt ausziehen musste, der Finge in ihrem Po, seine Hände an ihrer Vulva. Die echten Erlebnisse mischten sich mit den Horrorvorstellungen, bis sie selbst nicht mehr wusste, was eigentlich genau passiert war, und was sie sich nur ausgedacht hatte. Am Samstag morgen war sie wie gerädert. Eine andere Schwester kam zum Wecken, aber Elena war bereits wach. Sie wollte das Badezimmer benutzen. Die Schwester fragte, ob sie auch Duschen wolle. Elena überlegte etwas. Eigentlich wollte sie es nicht - unter diesen Bedigungen. Aber sie war in der Nacht völlig durchgeschwitzt, sagte deshalb dann widerwillig zu. Die Schwester verabschiedete sich kurz, um ihr Handtücher und frische Wäsche zu bringen, und schloss das Badezimmer auf, als sie wiederkam. Die Tür musste offen bleiben, während Elena auf der Toilette saß, und auch, während sie duschte. Die Schwester blieb vor der offenen Badezimmertür stehen, schaute meist weg, aber immer wieder mal kurz rein. Nicht mal alleine Duschen zu dürfen empfand Elena als zutiefst erniedrigend. Aber sie nahm es hin. Sie würde sich wohl dran gewöhnen müssen. Nachdem sie sich wieder angezogen hatte, schloss die Schwester das Badezimmer wieder ab. Elena nahm sich allen Mut zusammen, sprach sie wegen dem Anwalt an. "Ich richte es Schwester Meier aus", sagte sie, und verschwand durch die Tür.

War das vielleicht ein Hoffnungsschimmer? Würde ihr ein Anwalt gestellt werden? Vielleicht war doch noch nicht alles verloren, dachte sie sich, da kam auch schon Schwester Meier ins Zimmer. Mit Elenas Rucksack! Und ihren Sachen! War das Mißverständnis doch aufgeklärt worden, fragte sie. Hatte Schwester Wagner vielleicht endlich alles klargestellt? "Es gab nie ein Mißverständnis, Frau Markstein", antwortete Schwester Meier. "Was? Ich verstehe nicht? Was ist denn passiert?". Schwester Meier setze sich zu Elena aufs Bett, und erklärte: "Professor Lom, seine Methoden sind ... manchmal etwas unkonventionell, aber sehr effektiv. Er legt höchsten Wert darauf, dass seine Mitarbeiter verstehen, wie es den Patienten geht, was sie durchmachen. Fast alle der Patienten, die mit einer Zwangseinweisung eingeliefert werden, sind fest davon überzeigt, dass die Maßnahme ungerechtfertigt ist. Die meisten sagen das nicht nur, die glauben das ganz fest. Professor Lom möchte, dass alle Mitarbeiter wirklich wissen, wie sich diese Situation für die Patienten anfühlt. Wie sich die gesamte Prozedur anfühlt - Die Wut, die Angst, die Verzweiflung, die Scham. Gerade wir Schwestern müssen den Patienten immer mit höchster Empathie begegnen, in den schwierigsten Situationen. Das ist eines der wichtigsten Dinge, die sie in der gesamten Ausbildung lernen werden. Und die sollten sie nie vergessen!"

Vergessen? Wie sollte sie das jemals vergessen?