Der erste Tag im neuen Job als Zahnarztmuffel
Keine Zeit für Befindlichkeiten
Anna genießt die Erleichterung und das nachlassende Pochen. Mit der Zunge tastet sie vorsichtig in Richtung ihrer Backenzähne. Ein Schock durchzieht sie, als sie spürt, dass dort, wo vorher noch ein Zahn war, ein tiefes Loch prankt - umrahmt mit dünnen Zahnwänden. Dahinter tastet die Zunge ebenfalls ins Leere, flankiert von einem halben Zahn.
Hoffentlich war’s das und hoffentlich können diese Zahnruinen überhaupt noch mit einer einfachen Füllung versorgt werden.
Sie hätte gerne nachgefragt, aber sie ist hier ja nur das Demonstrationsobjekt. Für Dr. Kaltenstein scheint sie sowieso nicht zu existieren, allein ihr Mund genießt Aufmerksamkeit.
Die kalte Luft macht sich auch an den Zähnen bemerkbar. Gerne hätte sie ihren Kiefer geschlossen, um die Kälte aus ihrem Mund zu vertreiben. Außerdem würde sie gerne ihr schmerzhaft angespanntes Kiefergelenk entspannen.
Sie überlegt, ob sie irgendwie Aufmerksamkeit für ihren Wunsch erregen könnte. Währenddessen geht die Show um sie herum weiter.
“Sie können zurück zu ihren Kollegen und weiter zuschauen, Herr Meier”, erklärt Dr. Kaltenstein. Meier erhebt sich und trippelt unterwürfig zurück zu dem Grüppchen Studenten.
“Atzenbach, jetzt sie!”, schallt Dr. Kaltenstein und zeigt auf einen anderen der Studenten. Dieser springt auf und kommt mit dynamischen Schritten vor.
Er ist so ziemlich das genaue Gegenteil von Meier: durchtrainiert, dynamisch, kurze, blonde Haare, ein Kopf größer als Dr. Kaltenstein. Er wirkt fast so, als würde eine Militäruniform besser zu ihm passen als der zahnärztliche Kasack.
Ohne sich lange aufzuhalten, nimmt er wie selbstverständlich an der Seite Annas Platz. Unbehaglich beobachtet Anna, wie er mit seinen Pranken Spiegel und Sonde greift. Obwohl Annas Kopf fixiert ist, legt er seinen Arm um ihren Kopf und fixiert ihn zusätzlich mit so einer Kraft, dass es sich für Anna anfühlt wie ein Schraubstock.
“Präparation 4-5c distal für Füllungstherapie, korrekt?”, erkundigt er sich knapp und zackig. Dr. Kaltenstein nickt. Ihm scheint die klare, direkte Art des “Kollegen” Atzenbach zu gefallen.
Ohne weiteres Zögern zieht er den Bohrer aus seiner Halterung und positioniert ihn schwungvoll in Annas Mund. “Einfach entspannen”, erklärt er beiläufig seiner Patientin und nur einen Moment später heult der Bohrer auf.
Es vergehen nur Sekunden, bis Anna erst ein eisiger, dann brennender Schmerz durchfährt. Wieder verkrampft sie und kann nicht anders als laut aufstöhnen.
Dr. Kaltenstein kichert und stoppt seinen Studenten. “Langsam, langsam”, lacht er, “ich habe zwar gesagt, sie sollen zügig arbeiten, aber so schnell müssen sie dann doch nicht vorgehen. Wenn der Bohrer zu heiß wird, können Sie den Zahn traumatisieren”, belehrt er ihn.
Atzenbach nickt nur ernst, dann heult der Bohrer wieder auf. Der Schmerz schwächt sich leicht ab, ist aber weiterhin präsent. Sie spürt den muskulösen Arm um ihren Kopf, der sie zusätzlich zu den Fesseln fest im Schwitzkasten hat, während der Bohrer sich an dem vorderen der drei Backenzähne zu schaffen macht.
Sie sieht nichts mehr und merkt nichts mehr - ihr malträtierter Kiefer schmerzt, die Kälte der Wasserkühlung durchzieht mittlerweile jede Zahnwurzel. Ihre Muskeln sind bis zum äußerste gespannt und Tränen fließen über ihre Wangen. Das Ganze vermischt sich mit dem kühlen Wassernebel um ihr Gesicht, der wieder spürbarer geworden ist.
Ihr Fokus liegt klar auf dem Zahn. Die Eindrücke um sie herum nimmt sie gar nicht mehr war. Nicht das kühle Wasser in ihrem Gesicht, nicht das Lätzchen, das eng um ihren Hals liegt, nicht der straff gezogene Brustgurt und auch nicht die Arm- und Fußmanschetten, die jede Bewegung vereiteln.
Der Sauger arbeitet laut neben ihrem Ohr, um die Mischung aus Kühlwasser und Zahnsubstanz aus ihrem Mund zu saugen. Immer wieder kommt es zu einem laut schlürfenden Geräusch, wenn die Helferin mit dem Sauger den Gaumen absaugt und dabei Weichgewebe des Gaumens oder Teile der Zunge das Ansaugrohr verstopfen.
Atzenbach arbeitet konzentriert und zielgerichtet. Gleichzeitig hat er volle Kontrolle über seine schnellen, koordinierten Bewegungen wie über seine Patientin gleichermaßen. Immer wieder winselt Anna auf, ohne dass der Student davon Notiz nimmt.
Dann hängt er den Bohrer zurück. Endlich! Zügig kontrolliert er den Zahn, dann hat Anna wieder einen Bohrer im Mund. Dieser pfeift erneut auf, und es ist wie ein Elektroschock, als er den Zahn trifft.
Anna stöhnt erneut auf, kaum in der Lage, sich weiter zu kontrollieren. Der Bohrer arbeitet ungerührt weiter.
‘Au, aua!’, denkt Anna und kann nur hoffen, dass es schnell geht. Der Bohrer arbeitet sich unerbittlich vor, immer tiefer an den Nerv. Anna stöhnt auf. Lauter, als beabsichtigt. Ohne Wirkung. Der Schmerz nimmt weiterhin zu. Ahh, aahhhhh. Panik steigt in Anna hoch, sie zappelt und reißt an den Fesseln.
Dann, unvermittelt, entfährt Anna ein lauter Schrei, gepaart mit lautem Stöhnen. ‘Nicht weiter!’, fleht sie innerlich. Ihr Körper zuckt unkontrolliert zusammen.
Der Bohrer arbeitet noch ein paar Sekunden weiter, dann stoppt er endlich.
“Ich glaube, sie haben den Nerv erwischt”, verkündet Dr. Kaltenstein amüsiert, und beruhigt seinen Studenten gleich wieder: “nicht so schlimm, bei der Tiefe der Karies kommt das schon mal vor.”
Atzmann nickt knapp und kontrolliert bereits seine Arbeit, und erstattet ordnungsgemäß Bericht:
“Die Karies ist entfernt, die Pulpa sichtbar, aber nicht geöffnet. Exkavation abgeschlossen.”
Hervorragend das ist jetzt schon meine …