Die Erziehung der Klavierschülerin
Hören und Fühlen
Heute war es soweit. Sie durfte nicht nur Fingerübungen vor ihm machen, sie durfte auch spielen. Selbst spielen, eines Tages vielleicht auch das, was so verheißungsvoll erklang von den Pianisten dieser Welt, denen sie bisher doch nur hingebungsvoll lauschen konnte, ohrenvoll und ohrentoll und selbst der Organist in ihrer Kirche erschien ihr wie ein Gottgleicher, ein hohes Wesen, eine Machtverkörperung. Und - ja - sie schaute gern herauf, während sie hörte, während sie sich hingab den Darreichungen, welche mann ihr bot.
Heute also nahm sie erstmals Platz auf dem ledernen Höckerchen mit den knarzenden Scherenbeinen, nahm steifrückig und mit ehrfürchtig im Schoß gefalteten Händen Besitz von dem Stuhl, welcher sie noch ganz anders tragen sollte, welcher ihr noch zu veränderter Stellung verhelfen würde als jetzt, da sie in blassgraurotkariertem Rock aus englischer Wolle und weißer Bluse mit bis zum Kragen geschlossener Knopfleiste und züchtig bestrumpften Beinen und dezent glänzenden Schuhen vor dem Klavier aufrecht und still saß. Ihr Blick konzentriert, ihre Haare hochgesteckt, ihre Brille geputzt, ihr Spitznäschen gepudert, ihre Schultern gestrafft, ihre Augen gesenkt.
Und nichts deutete darauf hin, dass sich das ändern könnte, dass ihr Blick flehen, ihr Haar sich lösen, ihre Brille verrutschen, ihr Spitznäschen sich feuchtröten, ihre Schultern zucken, ihre Augen sich benetzen könnten. Nein, nichts ließ an diese Veränderung denken, nicht die Klappe des Instruments, die noch schwer und behäbig über den Tasten lag, nicht der Notenhalter, welcher leer und stumm über dem Messingschild des Instrumentenherstellers prankte, nicht das Metronom, welches still und bewegungslos stand.
Kein Jammern, kein Aufheulen, keine sich rhythmisch verkrampfende Blöße, kein schwirrender Taktstock, kein wild schlagendes Metronom, kein Crescendo, kein Übenübenübenstakkato, kein verzweifelter Es-tut-mir-leid! und Es-muss-sein-es-ist-zum-Besten-es-wird-eines-Tages-gedankt-Werden-Gesang, kein gurgelndes Weihwasser, keine heilig gemurmelte Erlösung! Nur Ruhe. Und ein knarzender Dielenboden, als ihr Lehrer, ihr Meister, ihr Maestro sich ihr endlich (wirklich endlich?) von hinten näherte, eine Hand auf ihre Schulter legte, eine Hand mit einem goldenen Ring und wenigen strengen Falten und kleinen Altersflecken, und ihren Kopf nach oben wenden ließ, nach oben, zum Licht, zur Erleuchtung, zur dankbaren Bestimmung.
Der Anfang sei am leichtesten, hörte sie. Im Beginn stecke die Möglichkeit auf größten Fortschritt. Wurde ihr gesagt. Da sei jeder Schritt noch groß und richtungsweisend, noch sicht-oder-fühlbar, je nachdem. Ließ sie sich dozieren. Wie im Buch des Herrn - ein seltsamer Vergleich dachte sie - als in sieben Tagen eine Welt geschaffen wurde, als Pflanzen-und-Tier-Reiche entstanden und ein Kosmos und die Geologie und das Feuer und der Mensch. In nur sieben Tagen.
"Alles was danach kam, wurde klein, verzagt, unbedeutend", sagte er. Wie nach innen gewandt. Und macht eine handschwere Pause. Um sich unvermittelt wieder aus der Stille zu winden: Im Anfang also läge die Chance und die Kraft und der Beginn gäbe das Fundament für alles Folgende. So hörte sie weiter. Was da verpasst und vertan würde, das strahlte noch weit hinaus ins Zukünftige. So wurde ihr weiter gesagt. Weshalb es wichtig - "hören Sie: w.i.c.h.t.i.g!" - es unumgänglich, es maßgeblich sei, dass sie gerade zu Beginn üben müsse, üben-üben-üben. Hörte sie weiter, während die Hand mit dem goldenen Ring und den kleinen Flecken sich mit gestrecktem Zeigefinger taktvoll und nachdrücklich nun spürbar auf ihrer Schulter niederließ, im Silben-Gleichklang: ü-ben-ü-ben-ü-ben. Weshalb auch von der Ausübung von Musik gesprochen werden müsse, sagte ihr Lehrer hinter dem Zeigefinger weiter, und die Ausübung sei kein Genuss, keine Freundlichkeit, kein Pappenstiel, sondern Arbeit, Fleiß, Hingabe. Hingabe vor allem.
"Hören Sie?" Und sie hörte und nahm sich vor, es sich zu merken: Fleiß. Hingabe. Disziplin. Kein Genuss. Keine Kunst. Das Recht auf Kunst und Genuss stünde nur dem Hörer, "dem Zuschauer, wenn Sie so wollen", zu. Im Beginn nur Disziplin, Zucht also zu Erhabenerem, erst dann könne an Veredelung, an Verfeinerung gedacht werden. Zunächst aber müsse das Tal der Tränen durchschritten werden, auch wenn es sich mit Siebenmeilenstiefeln durchmessen ließe bei ein wenig Anstrengung.
"Aber Anstrengung muss sein, hören Sie? Anstrengung, Disziplin, Hingabe." Und sie dachte: "Ja. Das höre ich. Das verstehe ich." Würde davon aber fehlen, würde an diesen Ingredenzien auf dem Weg zur Perfektion auch nur ein wenig gespart, so wäre das Scheitern voraussichtlich. Was er als Lehrer, als Wegweiser, als Kompass nicht zulassen könne, denn nur dazu sei er ja da: Aufzupassen, dass genügend Hingabe und Fleiß und Disziplin vorhanden sei Tag für Tag. Zum Wohle beider, der Schülerin und des Lehrers. Denn niemand wolle Vergeblichkeit, oder?
"Daher meine heilige Pflicht", so seine Stimme , eine leise-klare-bestimmte Stimme sehr nah an ihrem Ohr, so nah, dass sie auch den Atemhauch dazu vernahm, "für genügend Hingabe zu sorgen. Daher meine heiligste Pflicht, bei Abweichungen zurück zu führen auf den Pfad der Gelehrsamkeit." Wozu allerlei Mittel zur Verfügung stünden, Mittel und Methoden und Maßnahmen! Und wovon der Dirigentenstab, ein gertenschlankes Instrument aus feinstem Birkenholz, nur eines wäre, und eines der zarteren Art, sie zu dirigieren, ihr den Weg zu weisen. Das sei ihr versichert.