Die Erziehung der Klavierschülerin
Der Taktstock
Ach, dieses Klavier, dieses Monstrum, dieser ewig sich wehrende Kasten! All die Tasten, weiß und schwarz und zebragleich und keine anders als die andere außer ihrer extraordinären Lage. Wäre sie doch geschickter, schneller in Auffassungsgabe und Fingerfertigkeit! Wäre sie doch merkfähiger und gewandter! Aber so? So flimmern diese schwarz-weißen Interpunktionen vor ihren Augen. Ein einziges schwarz-weißes Band, ein Band aus Geheimnissen, eines, welches zu fragen scheint und sie ironisch anzwinkert: "Probier mich doch!", "Lass Deine Finger es doch versuchen!", "Drück' mich!", "Schlag mich!", "Du wirst schon sehen, wozu das führt…!"
Ja, das ist es, was sie hört. Und was alles, was sie eigentlich hören sollte, das Dur und Moll, das pianissimo vorgetragene D und das fistelnde C und das legere B, überlagert in ihrem Ohr. Weshalb sie verzweifelt vor diesem schwarz lackiertem Ungetüm, vor dieser Versuchung, welcher sie niemals gerecht werden kann. Trotz "üben, üben, üben!" Sechssilbrig. Silbrig. Perlend. Befehlend: Übenübenüben! So hat sie es im Ohr. Schmerzhaft wiederholend: üben-üben-üben! Mit kleinen Pausen nach jeder zweiten Silbe, mit einer Fermate, mit einer kleinen Überhöhung. Wie ein Atemholen, wie ein Ausholen, wie ein rhythmisches Stakkato. Üben-üben-üben, schrillt es, stampft es, klatscht es. Mal ledrig, mal händisch, mal mit feinstem Sirren. Warum nur? Was hat sie falsch gemacht? Ü-ben! -- Ü-ben! -- Ü-ben! Jede Silbe kommt prononziert und klar und unumgänglich. Sie weiß es und weiß bloß nicht, warum?
Warum bieten ihr diese elyseeische Gefilde, welche sich Musik nennen, keine Erlösung. Sie h-ö-r-t nicht, verstehst Du, sie h-ö-r-t einfach nicht. Ein wenig mehr Hingabe, ein wenig mehr Liebe, ein mehr Demut, und das Instrument würde sich ihr erschließen, sie würde verstehen, würde sich hingeben können. So aber muss jede Silbe, jeder Ton - leider - metronomhaft betont werden, leider! Üben! Klatsch. Üben! Switsch. Üben! Klatsch. Leider. Es stört die Komposition, es stört sie, es stört das Fortkommen, das Vorankommen, das Sichnähern der himmlischen Sphäre, die sich Musik nennt.
Und ja, auch den Hörer stört es. Es nimmt den Fluss, den Genuss, es zieht die Kunst herab, den ursprünglich reinen Gedanken, es nimmt die Komtemplation. Leider. Das lässt sich kaum häufig genug betonen. Dabei übt sie ja, stundenweise, tageweise, sie befingert und beschmeichelt das schwarzweiße Band bis zur Erschöpfung, bis die Augen tränen, bis die Notentupfen und die Notenlinien und die Tasten verflimmern zu einem einzigen Tränenband. Sie übt und versucht sich, opfert Zeit und Konzentration und lässt sich ein auf den Reiz der Takte, versucht es wieder und wieder, verzweifelt manchmal, verzweifelt häufig, versucht zu verschmelzen mit der Aufgabe, mit den Tasten, mit den Fingern, mit der unterstützend schwingenden Hand. Aber es wird so selten etwas Richtiges, etwas Gelungenes. Irgendetwas stockt in ihr, ist verstockt trotz Einsatzwillen - sie verkrampft, sie rötet, sie zuckt. Und dennoch: Es will nicht gelingen, auch zum atemlosen Ende nicht, auch nicht zum Crescendo hin, auch nicht, wenn sie längst nicht mehr spielt, sondern bespielt wird vom Instrument, von einem anderen Instrument - dem gertenschlanken Taktstock.
Ja, es ist arg. Zugegeben. Doch niemand hatte je behauptet, dass es leicht würde, dass es einfach herunter zu takten sei dieses Stück, diese Aufgabe, diese Melodie aus Silbe und Takt und Silbe und Takt und Ton und Ton und Ton in ewiger Folge. Nein, fürwahr, das Elysia criea, welches doch eigentlich in luftige Höhen streben sollte, hoch hinauf sich reckend und streckend, dieses jubelnde Prachtstück, dem Herrn dort oben zu Ehren und zum Wohlgefallen, dies erfordert Haltung und Wunsch und absoluten Willen, damit es gelingt.
Oh erhöre sie! Oh erhorche es, das Säuseln und Wimmern des Engels! Oh gehorche! So der Komponist, der Schöpfer es will. Und sie gehorcht, sie versucht, zu hören und hört zu den Elysia-Chören auch den Übenübenüben-Chor. Und hört den Taktstock, wie er schwingt und schlägt und die Luft sirrend teilt und landet und ihrem zuckenden Notenpapier eine neue Linie gibt, eine neue Höhe, sie erhöht, überhöht und sie es dankbar bemerkt und empfängt, schluchzend manchmal, so süß sind ihr alle neuen Linien und gesprengelten Noten auf ihrem dargebotenen und aufgeschlagenen Melodienbuch! Aber ach, es führt dann doch zu nichts, oder nur zu wenig, sie scheitert um und um, sie sinkt und steigt nicht, sie schafft es nicht, mit dem ihr so wohlwollend dargebrachten Instrument eins zu werden. Stattdessen krampfen ihre Finger hinauf, links und rechts wölben sie sich, ertasten nicht mehr Schwarz und nicht mehr Weiß, sondern rotglühende Hitze. Und sie denkt: Ich wäre doch so gern williger. Würde so gern diese Musik verstehen lernen!
Vergiss aber auch nicht unsere Liebe Sa…
Wohltemperiert! Sehr schön. Und ja, das…
Klingt nach wohltemperiertem Potenzial,…