Der Nachbar ist Zeuge

Akt 2

Was hat die Tante so aufgebracht, wird sich Sandrine fragen, während sie sich zuerst ihres bereits an den Kniekehlen hängenden Höschens entledigt, dann den Rock abstreift und schließlich die Strümpfe von ihren zierlichen Füßen zieht. Unbehaglich tut sie es, ich sehe es an jeder ihrer Bewegungen. Langsam und unbeholfen sind sie, als ob sich diese junge Frau dort auf dem Sofa das erste Mal ausziehen würde. Mehrmals faltet und ordnet sie, die nun Halbnackte, nur noch mit weißer Bluse Bekleidete die Textilstücke neu, legt sie neben sich, dann nahe einer der Seitenlehnen, wo sich Kissen im englischen Muster stapeln, streicht Höschen, Rock und Strümpfe mit feingliedrigen Fingern glatt. Ach, ich weiß, warum sie so unentschieden, so unsicher ist. Sie will es ihrer Tante Recht machen, will keinen Fehler machen, will sie mit richtig gefalteter Wäsche besänftigen. Als ob sich Frau Winterschwang von solcher Petitesse besänftigen lassen würde! Wir, also ich, der Nachbar, der sie schon länger kennt und Sie als geneigtes Publikum, das der bisherigen Handlung sicherlich genauso aufmerksam folgte wie ich, können das getrost annehmen.

Doch was macht Sandrine, die eben erst Angekommene, die Fiebrige, die doch eigentlich bemitleidenswert Kranke, in den Augen ihrer Tante, nun, sprechen wir es rundheraus aus: zur Deliquentin? Was hat sie falsch gemacht, was hat sie in dieses wuchtig möblierte Wohnzimmer befördert, wo Kaffee und Kuchen halb angerührt auf dem Tisch stehen und sie selbst vom Bauchnabel abwärts entblößt, züchtig gerade und mit geschlossenen Beinen auf der Kante von rotem Samt sitzend auf etwas Unausgesprochenes warten muss? Was hat sie in diese Situation gebracht, in der sie allein und ängstlich auf die einzige Tür zu diesem erdrückend stillen Raum schaut, und der Rückkehr ihrer sich plötzlich so unheimlich verhaltenden Tante entgegensieht? Sie wollte ihre Tante doch nur für ein paar Tage besuchen, mit ihr etwas Nettes unternehmen, ein Opernbesuch war vereinbart und Bummelei durch die Geschäfte in der großen Stadt. Alles harmlos, alles unschuldig und nun dies. Sandrine erkennt ihre Tante nicht wieder. So herrisch, so kalt, so bestimmend, hat sie sie noch niemals erlebt.

Wir (ich schließe Sie nun als Leser, die Sie so weit meinem Bericht gefolgt sind, mit ein) glauben die Antwort nach den Indizien auf dem Thermometer zu kennen, zumal der ins Penible weisende Hang Frau Winterschwangs zum Reinlichen im ganzen Haus bekannt ist. Sie legt äußersten Wert auf Sauberkeit und Ordnung, verlangt, dass das Treppenhaus zweiwöchentlich geputzt und alles sorgfältig gepflegt wird. "Sauberkeit ist meine Bibel", sagt sie gelegentlich, zitiert gar Jesaja. "Waschet, reiniget euch, tut euer böses Wesen von meinen Augen, lasset ab vom Bösen!" Ein Spleen, eine lästige Schrulle war mir das bis jetzt, fand es sonderbar, wie man sich über unordentlich auf den Fußabtreter gestellte Schuhe aufregen kann. "Ich glaube eben an die Übergeordnetheit einer reinlichen Existenz", murmelt sie dann. "Ein reines Zuhause schafft einen reinen Geist.""

Während sich Sandrine sichtbar Gedanken macht, wohl auch hofft, alles sei ein Missverständnis, während die Uhr tickt und tickt und jedes Ticken schwerer auf die verunsicherte Seele der jungen Frau fällt, lasse ich den Blick schweifen. Nicht, dass mich ihre nun züchtig halbverhüllten Reize nicht mehr interessieren würden, weil ich bereits jedes ihrer intimen Geheimnisse ausgiebigst erkunden durfte. Im Gegenteil. Aber ich sehe in dem Wohnzimmer meiner Nachbarin plötzlich Details, die ich zuvor bei meinen zeitweiligen Gucklochspionagen nicht wahrgenommen habe. Dort ein verdächtiges Porzellan, hier ein wie ein Kleiderständer aussehenes Stück, da hinten in einer Vase drapiertes Bambus, in der Nähe des Sofas ein bodenlanger Spiegel. Ich mag mich irren, mag Gespenster sehen, aber wie wahrscheinlich ist das nach dem bereits Geschehenen und den beschriebenen charakterlichen Marotten dieser Frau? Nicht auszudenken, was sich in den Schubladen der Kommode befinden könnte oder hinter der Tür, die nun schon so lange verschlossen geblieben ist.

Nun, sich erwartungsvoller Fantasie hinzugeben, angenehm zu spekulieren, dabei das gewisse Kribblen zu spüren, ist das eine, Zeuge vollzogenener Taten zu werden, das andere. Wobei wir davon ausgehen müssen, dass die gleichen Spekulationen für Sandrine deutlich weniger verheißungsvoll sein dürften als die unsrigen. Aber was wissen wir schon, wie weit die Vorstellungskraft dieser jungen Dame reicht, wie sehr sie die Zeichen für das Kommende deuten kann, kurz: Wie arglos sie noch immer ist?

Nun, endlich öffnet sich die Tür, der Vorhang ist gehoben. Wir erwarten den zweiten Akt

Frau Winterschwang erscheint aus der Dunkelheit eines unbeleuchteten Raums, sie hat sich eine Schürze umgelegt, makellos weiß ist sie und bringt eine groblederne Tasche mit, die mit einem Messingverschluss versehen ist.

"Worüber werden wir jetzt zu sprechen haben, Sandrine", fragt sie, kaum eingetreten, kaum zurückgekehrt von rätselhafter Abwesenheit. Die so Befragte ist überrumpelt, weiß nicht so recht, was von ihr erwartet wird.

"Ich weiß nicht Tante. Weil ich Fieber habe, weil ich krank bin?", antwortet sie vorsichtig. "Hätte ich das vorher gewusst, ich wäre doch nicht gekommen, ich will doch meine liebe Tante nicht anstecken. Glaub mir das bitte…"

"Papperlapapp", schneidet ihr Frau Winterschwang brüsk das Wort ab. "Um Dein Fieber kümmern wir uns später, das sei Dir versichert." Und spitz und wie enttäuscht weiter: "Fällt Dir wirklich nicht mehr zu dem Vorgefallenen ein? Ist Deine Temperatur wirklich Deine einzige Sorge?" Und leiser, wie zu sich selbst gesprochen: "Wie kann sie nur, wie kann meine eigene Nichte nur so empörend ignorant sein?"

Dann, schroff die Ledertasche ganz nah an Sandrine stellend, wie, um sie beide miteinander bekannt zu machen, beugt sie sich zur ihr herab, ihre weiße, gestärkte Schürze knistert dabei, schaut ihrer Nichte ins Gesicht:

"Ich will, dass Du mir jetzt gut zuhörst. Auch wenn Du offenbar standhaft ignorieren möchtest, was das Thermometer zu Tage gebracht hat, ich sage Dir, Du bist schmutzig. Und ich frage mich, wie das sein kann. Hat Dich Deine Mutter denn nicht das Mindeste in der Hygiene unterwiesen? Und ich frage mich, wie Du nur so nachlässig mit Dir selbst sein kannst? Sauberkeit ist der Spiegel unserer Disziplin! Verstehst Du?! Und ich erwarte ab jetzt Disziplin von Dir, weil ich Schmutz nicht toleriere. Schmutz macht krank und Schmutz verdirbt den Charakter, das werde ich Dir, weil es Deine Mutter leider nicht getan hat, nun beibringen."

Ich sehe, wie Sandrine erstarrt, und ich sehe, wie sich Frau Winterschwang aufrichtet und in Richtung Ledertasche nickt.

"Aber um sicher zu gehen, dass das, was ich vermute, stimmt, müssen wir der Sache noch etwas mehr auf den Grund gehen." Und mit einem leisen, unerbittlichen Lachen: "Du wirst noch feststellen, dass ich immer gründlich bin."

Der Messingverschluss klickt, die Tasche – nennen wir sie fortan 'Tasche der Gründlichkeit' – wird geöffnet, ein Gummihandschuh, gelb und unterarmlang wird in die Höhe gehoben. Wie ein böser Clown wackelt er, dieses fünfgliedrige, unerfüllte Wesen, wie von einem fernen Meer ausgespuckt, quallig und pockennarbig und für nicht mehr als für niedere Dienste bestimmt. Auch kommt ein weißes Tuch zum Vorschein, es ist Stoff gewordener Gegensatz zum unflätigen Handschuh. Wo dieser feuchte Grotten oder lange, dunkle Höhlen ausforschen muss, ist jenes Feingewirkte die Standarde der Reinheit, auf der 'Sauberkeit ist Ausdruck innerer Klarheit' gestickt sein könnte. Es wäre Frau Winterschwang zuzutrauen. Der weitere Inhalt der Tasche bleibt derweil unbekannt, aber wir können getrost annehmen, dass sich darin keine Liebesromane befinden oder Duftkissen.

Auch Sandrine dürfte das Inhaltliche entgangen sein, denn ihre beklemmte Aufmerksamkeit gilt ausschließlich dem Handschuh, den ihre Tante melancholisch hin- und herwendet. Frau Winterschwang wirkt dabei für einen Augenblick so andächtig, so versunken, als ob Erinnerungen an diesem gelben Ungetüm hingen, als ob er ihr etwas Besonderes bedeutete, gar wie ein lieber Freund ans Herz gewachsen sei. In Wirklichkeit aber – das können wir ihr getrost unterstellen – ist diese Geste bewusst inszeniert. Sandrine soll genau hinschauen, sie soll jeder Bewegung folgen, soll in der feierlichen Theatralik, mit der Frau Winterschwang den Handschuh jetzt überstreift, die Pose der Macht und der Distanz spüren. Derweil sagt sie: "Du breitest jetzt das Tuch auf dem Sofa aus, ja, genau so, und legst Dich mit dem Rücken darauf…"

Wir beobachten die hastigen, die ungeschickten Bewegungen Sandrines, die wir ihrer Aufgeregtheit zuschreiben und ihrem Versuch, trotz ihrer halben Nacktheit Würde zu bewahren. Es gelingt ihr schlecht. Wer wäre schon in der Lage, beim Aufdecken eines Tuches den bloßen Po und das bloße Geschlecht zu verbergen, zumal wenn eine gelb gummibehandschuhte Hand mit einem vorgestreckten Zeigefinger im Wortsinne im Raume steht und die nächste Anweisung lautet: "…und jetzt winkelst Du Deine Beine zu Dir an, so als ob man Dir ein Windel anlegen will und hälst sie an Deinen Kniekehlen fest."

Wir haben wieder Glück, das Geschehen auf der Bühne richtet sich zu unserer Loge aus, und wir sehen zunächst den gequälten Blick der Nichte, die sich schon hingelegt hatte, sehen, wie sie ihre Beine anzieht, sehen, wie sich dabei ihr Gesäß leicht anhebt und zugleich die Backen zu einem klaffenden Spalt auseinanderbewegen, sehen erneut und durchaus angetan, wie ihr rosa Venus-Pfläumchen und ihr After sich, ohne dass Sandrine etwas dagegen tun könnte, zu voller und – wir wollen es so formulieren – kaum salonfähiger Pracht entfalten.

Was uns begeistert, ist Frau Winterschwang jedoch zu wenig. "Zieh Deine Beine noch mehr zu Dir heran und spreize sie von Dir weg!"

Noch sichtbarer, noch mehr auf dem Präsentierteller erscheint die uns nun schon vertraute, frech braun gekräuselte Himmelspforte zwischen den zum Äußersten strapazierten Bäckchen aus zartem Fleisch und Pfirsichhaut. "Domini creatio magnifica" scheint uns ein Chor dazu zu singen. Es ist ein himmlischer Chor, ist es doch ein himmlischer Anblick.

"Aber Tante, was… was hast Du vor… was willst Du?"

"Ich will, dass Du tust, was ich Dir sage. So einfach ist das. Und im übrigen wollen wir nun herausfinden, warum sich auf dem Thermometer diese… diese Spuren befunden haben." Und dann abrupt übergangslos und kategorisch: "Wann hattest Du das letzte Mal Stuhlgang?"

Können wir uns in die arme Sandrine hineinversetzen? Können wir das? Versuchen wir es: Sie liegt in demütigender Windelposition, in die sie auf für sie immer noch unerklärliche Weise gezwungen wurde, vor ihrer Tante, die völlig verwandelt so befremdlich streng über Hygiene und Sauberkeit doziert, die Disziplin und Gehorsam verlangt, die ihr bereits in Hündchenstellung rektal die Temperatur gemessen und nun diesen furchterregenden Handschuh übergestreift hat. Nichts ist mehr, wie es war, nichts mehr, wie erwartet. "Wie konnte das geschehen?", wird Sandrine sich fragen. Und nun diese schrecklich peinliche Frage! Nach ihrem Stuhlgang! Niemand hat sie, solange sie sich erinnern kann, danach gefragt. "Warum lasse ich das mit mir geschehen, warum fühle ich mich plötzlich wie ein kleines, schmutziges Mädchen?"

"Ich weiß nicht… ich glaube… gestern."

"Was heißt hier, 'ich weiß nicht'? Du willst doch nicht im Ernst behaupten, Du könntest Dich nicht erinnern! Also wann?"

"Gestern", hören wir Sandrine, möglicherweise unvorsichtig unüberlegt schnell hervorstoßen. "Ja, gestern."

"Nun, das Thermometer spricht eine ganz andere Sprache. Aber Deine Behauptung lässt sich ja leicht überprüfen." Die letzten Worten begleitet der gelb gummierte Finger im Takt, besonders die Silben ü-ber-prü-fen betont er eindrücklich. Genauso, wie er kurz darauf eindrücklich in den Tiegel auf dem Beistelltisch sinkt, etwas von der darin befindlichen, gleitenden Gabe aufnimmt und sich dann eindrücklich der – wir betonten es schon – aufreizend offen präsentierten Rosette der sich wie ein kleines, schmutziges Mädchen fühlenden Sandrine widmet. Und wie eindrücklich er es tut! Seine gelbe Spitze nähert sich resolut dem gekräuselten Löchlein, bohrt und weitet und spießt und dehnt und provoziert wie schon bei der züchtenden Handgabe einige Schluchzer, die sich zu einem spitzen Schrei verdichten, als sich das Gummitier den endgültigen Weg durch die widerspenstige Barriere in die warme Dunkelheit gebahnt hat.

Lassen wir der armen Sandrine den Schrei durchgehen, sie wird zuvor in ihrem jungen Erwachsenenleben nichts Vergleichbares an jenem Örtchen gefühlt haben. Wieder lässt sich ihre Tante Zeit. Wir glauben, sie etwas von Akkuratesse, von Sorgfalt, von Pflicht, aber auch von Hygiene und Enttäuschung murmeln zu hören, alldieweil sie mit einiger Hingabe ihren Zeigefinger in dem in Steinschnittlage dargebrachten Poloch langsam hin- und herbewegt und sich im Gleichtakt der darüberliegende, von zart protrudierenden Lippen umkränzte Spalt ein Hauch weit öffnet und wieder schließt und öffnet und wieder schließt. Wir sehen gerne dem Auf- und Abgleiten des noppig-gelben Gummis zu, stellen uns die gleichzeitigen Grimassen der Nichte vor, die eine Mischung aus Ohnmacht und Verzweiflung und Scham und Verzweiflung sein müssen und fühlen nicht nur mit Sandrine mit, sondern auch mit der Tante. Was ihr Finger wohl spürt, während er ertastet und erforscht und sich ein taktiles Bild vom dagebotenen geheimsten Inneren macht? Ein letztes Mal, nun forsch und gewissermaßen bis zum Anschlag, penetiert der Finger Sandrines Darm, dann verlässt er ihn, wieder einen kurz kreisrund geöffneten Anus zurücklassend und eine weinerliche Sandrine.

Werfen wir einen Blick auf den in die Höhe gehaltenen Boten der Wahrheit: Gelb ist er nur am Ende, an der Spitze jedoch ist er braun verfärbt. Frau Winterschwang wusste es, wir wussten es, selbst die nun endgültig zur Deliquentin oder zur Sünderin abgestempelten halbnackte Sandrine wird es geahnt haben: Das Thermometer hat nicht gelogen, der Finger lügt nicht… "Du bist voller Unrat!", zischt Frau Winterschwang. "Du bist verstopft! Und Du wagst es, mir ins Gesicht zu sagen, Du hättest gestern Dein großes Geschäft gemacht. Es wird Konsequenzen haben, dass Du nicht ehrlich warst."

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Rotzhodern Vor 4 Monate  
DrCastigo Vor 4 Monate  
DrStrict Vor 4 Monate 1  
Rotzhodern Vor 4 Monate