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Artenvielfalt

12. Die Freiheit

Eiligen Schrittes betrat Sabrina den Flur. Sie schloss die Tür des Untersuchungszimmers und ließ Dr. Winkelmann schnell hinter sich. Endlich habe ich es geschafft, dachte sie und schaute sich um. Der Gang führte einerseits zum Eingangsbereich, wo sich der Annahmetresen mit Frau Schenke befand, in der anderen Richtung befanden sich die Türen weiterer Untersuchungsräume sowie auch das Labor. Die Tür zu diesem Raum stand offen. Wer dort wohl jetzt sitzen muss, malte sie sich aus und drehte sich in Richtung Ausgang. Im Anmeldebereich war es noch immer belebt. Sabrina hörte Stimmen und das Klingeln eines Telefons, während sie den Bereich betrat. Es saßen zwei Mitarbeiterinnen hinter dem Tresen, Frau Schenke allerdings nicht. Ein Patient stand am Tresen und ließ sich Informationen geben. Ein Glück, dass ich nichts mehr im Wartezimmer liegen habe, dachte Sabrina und war froh, keine wartenden Patienten zu treffen, denen die Untersuchung noch bevorstand oder welche ahnten, was Sabrina gerade alles erlebt hatte.

Sabrina stellte sich hinter den Patienten und wartete darauf, sich für heute abzumelden. Die andere, vorhin noch freie Mitarbeiterin telefonierte. Ruhig wartete sie, konnte aber deutlich vernehmen, worum es im Gespräch zwischen dem Patienten und der Mitarbeiterin ging. Wie Frau Schenke vorhin auch Sabrina alles erklärt hatte, beschrieb die Mitarbeiterin, was der Patient während der Untersuchung alles über sich ergehen lassen müsste. Sabrina vernahm deutlich aus dem Gespräch, welche Schritte die Untersuchung des Patienten umfassten. Blutabnahme, Urinprobe, dann die Untersuchung. Sie war froh, nicht in der Haut des Patienten zu stecken und wusste genau, wie er sich nun fühlen musste. Er war ungefähr so groß wie Sabrina, hatte allerdings eine sportliche Figur. Seine Haare waren blond und er schien nur ein wenig älter als Sabrina zu sein.

„Zur Voruntersuchung rufen wir dich dann auf. Nimmst du bitte so lange im Wartezimmer dort Platz?“ Die Mitarbeiterin zeigte auf den Wartebereich. „In Ordnung“, sagte der Patient und ging ohne sich umzudrehen direkt dorthin. Die Mitarbeiterin schaute Sabrina an. „Hallo, ich sollte hier noch kurz zu Frau Schenke, und zwar für die Bescheinigung.“ Während Sabrina sprach, trat sie einen Schritt näher. „Ja, einen Moment, ich schaue kurz.“ Die Mitarbeiterin blickte kurz in ihren Bildschirm und tippte etwas in ihre Tastatur.

Merkwürdig, dachte Sabrina. Die Mitarbeiterin hatte sie gar nicht in Erinnerung. Sabrina war sich nicht sicher, ob sie hier vorhin auch schon saß, als sie sich angemeldet hatte. Sie war nicht so sehr geschminkt wie Frau Schenke, aber freundlich war sie. Sie war schlank, braunhaarig und noch recht jung. Ob sie sich hier wohl auch untersuchen lässt? Sabrina erschrak ein wenig, als sie sich ausmalte, wie die Mitarbeiterin hier untersucht würde. Als stille Beobachterin hatte sie sich die Teilnahme an einer Untersuchung nie vorgestellt. Der Gedanke aber gefiel Sabrina irgendwie.

Sie schaute sich um. Zu groß war die Gefahr, dass das Mädel am Tresen, das sie bediente, irgendeinen Verdacht schöpfte und erahnen konnte, was Sabrina dachte. Währenddessen beendete ihre Kollegin daneben das Telefongespräch. Kaum war der Hörer aufgelegt, klingelte es erneut. „Seibel?“ meldete sich die Kollegin. Wie es schien, sollte es ein kurzes Gespräch werden. „Ok, mache ich. Zimmer 2? Ja, in Ordnung.“ Die Kollegin legte auf, stand auf und ging in Richtung Wartezimmer. Sabrina schaute wieder zu ihrer Kollegin. Noch immer war sie mit dem PC beschäftigt, tippte einige Dinge ein, schaute dann aber kurz auf. „Sabrina, richtig?“ „Ja!“ „Ok, gleich haben wir es. Ich sehe gerade, dass der Doktor einen Vermerk gemacht hat. Wir sollen einen Folgetermin ausmachen.“

Ein Schreckgefühl ging durch Sabrinas Körper. Dr. Winkelmann meinte es ernst, dachte sie kurz. Schon wieder so eine Untersuchung? Sabrina wurde etwas nervös. Ihr vorheriger Gedanke war längst verflogen. Sabrina fragte sich, wozu das nötig sein sollte. Hatte der Arzt nicht gesagt, sie wäre gesund gewesen? Ihre Blicke wanderten über den Tresen und versuchten, einen Punkt zu fixieren. Wie es schien, lief alles aus dem Ruder. Aber musste es das? Sabrina nahm sich zusammen. Vielleicht ist es auch gut für mich, dachte sie. Eine Vorsorge sollte nie schlimm sein. Aber das Nacktsein dabei, diese Scham, die Berührungen. „Soll ich einen Termin heute in einem Jahr eintragen?“ fragte die Mitarbeiterin. Sabrina blickte in ihre lächelnden Augen. „Ja, bitte“, antwortete sie darauf. Wie hypnotisiert gab sie diese Antwort. Lieber so, als jetzt nicht negativ aufzufallen, beruhigte Sabrina sich und beobachtete, wie die Mitarbeiterin den Termin auf einen kleinen Zettel schrieb. „So, bitte sehr!“ Die Mitarbeiterin übergab ihr die Notiz und tippte noch etwas in den PC. Dann wandte sie sich einem Drucker zu, der sodann begann, ein Blatt zu bedrucken.

Sabrina ließ ihren Blick wieder schweifen. Sie hörte Stimmen, welche aus dem Gang zu kommen schienen, der zu Räumen hinter den Tresen führte. Die Schatten wurden immer deutlicher, die Stimmen wurden immer lauter. Sabrina schien, als kamen ihr die Stimmen bekannt vor. Tatsächlich verwandelten sie sich mehr und mehr in Personen. Instinktiv weiteten sich ihre Augen, als sie Dr. Karmann und Sebastian erblickte. Beide kamen aus den hinteren Räumen in den Eingangsbereich und unterhielten sich dabei. Dort angekommen, verabschiedete sich Dr. Karmann von Sebastian und ging weiter. Sie warf Sabrina einen kurzen Blick zu, dann war sie wieder in Gedanken und ging möglicherweise direkten Weges zu ihrem neuen Patienten Sebastian selbst blieb am Tresen stehen, als er Sabrina erblickte.

Wie als wenn sie es sich wünschte, von ihm angesprochen zu werden, schaute Sabrina Sebastian erwartungsvoll an. Auch sein Blick blieb an ihr hängen. „Hey, auch schon fertig?“ fragte er und stellte sich neben Sabrina. „Ja, gerade“, antwortete sie. Sabrina gefiel es, dass sich Sebastian zu ihr gesellte. „Und du? Wie lief es bei dir?“ fragte sie ihn. „Ach, ganz gut. Nichts Besonderes. Meine Werte sind alle ok, Trainingsplan passt auch.“ Sabrina lächelte und schaute kurz zur Mitarbeiterin hinter dem Tresen. „Hier ist die Bescheinigung!“ Sabrina nahm sie entgegen. „Vielen Dank“, erwiderte sie und steckte sie sich in die Tasche. „Bis zur nächsten Untersuchung dann, Sabrina. Auf Wiedersehen!“ Das Wort Untersuchung kam unerwartet und löste wieder einen kleinen Schreck aus. „Ja, vielen Dank. Bis dann!“ antwortete Sabrina und lies sich nichts anmerken. Dann wandte sie sich Sebastian zu, der auf sie wartete. „Hättest du Lust zum Deich? Es ist nicht windig, und das Wetter ist ganz gut!“ fragte er sie. In die Schule wollte sie jetzt nicht mehr, nach Hause auch nicht. Daher war sie froh, dass Sebastian ihr diese Frage gestellt hatte. „Gern!“ antwortete sie mit einem Lächeln und verlies mit ihm den Vorraum der sportmedizinischen Praxis.

Sie folgte Sebastian auf die angrenzende Parkfläche. „Mein Fahrrad steht noch hier“, erwähnte sie kurz. „Ich bringe dich nachher hier wieder her. Hast du es weit von hier nach Hause?“ „Nein, nur ein paar Minuten.“ Sebastian lächelte. Sabrina gefiel sein Lächeln. Ihr gefiel die Nähe zu ihm und war froh, dass sie diesen Tag bis jetzt so gut gemeistert hatte. Was jetzt wohl noch passieren wird, dachte sie dabei, während sich beide einem roten Cabrio mit geschlossenen Verdeck näherten. „Das ist der Wagen meiner Mutter.“ Statt zur Fahrerseite ging er an die rechte Seite des Wagens. Sabrina ahnte, was Sebastian wenig später auch in Realität umsetzte. Er öffnete die Beifahrertür und hielt sie Sabrina einladend auf. Sie war sehr überrascht aber erfreut zu gleich über diese Geste. So etwas hatte sie nicht erwartet und nahm die Einladung wohlwollend an. Der Sitz war mit feinem Leder bezogen und fühlte sich sehr fein an. Auch das Interieur wirkte fein und teuer. Das schwarze Armaturenbrett war edel und mit silberglänzenden Linien verziert. Sabrina genoss den Moment. In einem solchen Auto saß sie noch nie. Auch das Lenkrad war aus Leder und verfügte über mehrere Schalter. Vorsichtig schloss Sebastian die Beifahrertür und stieg dann ebenfalls ein. „Magst du offen fahren?“ fragte er Sabrina, während er sich anschnallte. „Ja, gern!“ antwortete sie und schnallte sich ebenfalls an. Sebastian startete das Auto und betätigte einen Schalter in der Mitte. In dem Moment öffnete sich das Dach und klappte sich ganz automatisch nach hinten. Sofort spürte Sabrina die Frische des Tages und genoss die Blicke anderer. Dann setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Es folgte ein kurzer Weg durch die Stadt und über das Land.

Sabrina genoss die Fahrt. Sie saß zwar windgeschützt, doch ab und zu ergriff der Wind ein paar ihrer Haare. Sebastian fuhr sehr sicher und selbstbewusst. Immer wieder schaute er kurz zu seiner Beifahrerin. Wieder überkam Sabrina ein Gefühl von Aufregung. Sie war zwar schon oft am Deich, doch heute war es anders. Immer wieder durchfuhr ein Kribbeln ihren Körper. Dieses Gefühl der Freude hatte sie schon lange nicht mehr. Sie hätte nie gedacht, dass der Tag so kommen wird. Sabrina spürte den Gurt auf ihrem Körper und erinnerte sich an die Berührungen der Ärzte. Was beschäftigte sie daran so sehr? In diesem Moment wollte sie es vergessen und bemühte sich, die Gedanken an die Untersuchungen schnell hinter sich zu lassen. Sebastian sollte davon auf keinen Fall etwas erfahren. Ein kurzer Blick, ein kurzes Lächeln, dann schaute sie wieder nach vorne.

Sebastian hielt das Lenkrad mit beiden Händen, wirkte dabei aber recht lässig. Doch nicht nur das, sondern auch seine Hände fielen Sabrina auf. Sie waren groß, gepflegt und wirkten geschmeidig. Ohnehin war Sebastian gut gekleidet. Er roch auch gut. Der Duft seines Parfüms vernahm sie selbst während der offenen Fahrt. „Gleich sind wir da“, sagte Sebastian, kurz bevor sie bei der Badestelle eintrafen. Der Weg zu Strand führte über eine Küstenstraße an Sträuchern und Gewässern vorbei. Immer wieder stiegen Vögel auf, als das Auto an ihnen vorbei fuhr. Schnell aber fuhr es nicht, schließlich war das komplette Gelände ein Naturschutzgebiet. Und die Sonne strahlte. Es war kaum noch eine Wolke zu sehen. Und dennoch war es nicht heiß, sondern angenehm. Eine Sonnenbrille wäre jetzt super, dachte Sabrina. Sebastian steuerte das Auto auf einen Parkplatz. Im hinteren Bereich standen einige Wohnmobile. Direkt am Aufgang zum Deich standen noch ein paar andere Autos. Sebastian parkte daneben. „So, da sind wir“ und schnallte sich ab. Sabrina tat das Gleiche und stieg wie auch Sebastian aus. Ob das Dach wohl offenbleibt, fragte sie sich kurz. Dabei schaute sie in Sebastians Richtung, der neben dem Wagen stehend und lächelnd auf sie wartete. Dann gingen sie gemeinsam zur Deichtreppe.

Es waren einige Stufen, die erklommen werden mussten. Steil waren die Stufen nicht, doch immerhin war der Deich knapp zehn Meter hoch. Sabrina spürte die Anstrengung. Die Untersuchung vorhin hatte sie schon ein wenig geschafft, wurde ihr gerade klar. Und doch war es ihr in diesem Moment egal. Zu schön war der Moment mit Sebastian zum Deich gefahren zu sein. Sabrina überlegte, was sie ganz oben erwarten würde. War es doch immer wieder die gleiche Frage. „Was meinst du, haben wir Ebbe oder Flut?“ Sebastian schaute zu Sabrina. „Ich glaube Ebbe!“ „Na, dann bin ich mal gespannt!“ Sabrina beschleunigte, nahm zwei Stufen auf einmal und zog an Sebastian vorbei. Das ließ sich Sebastian nicht nehmen und lief sofort hinterher. Es war kein weites Stück mehr, vielleicht nur noch ein paar wenige Stufen, doch der Einsatz hatte sich gelohnt. Oben angekommen erschloss sich beiden die Weite des wunderschönen Wattenmeeres. Es war Ebbe, und der Anblick von der Spitze des Deiches war überwältigend. Die Sonne ließ die Pfützen im Watt weiß glänzen, die sich zwischen den wellenartigen Mustern auf dem freigelegten Meeresboden gebildet hatten. Die Nordsee war weit weg und ließ sich am Horizont erahnen.

Etwas aus der Puste krümmte Sabrina den Rücken etwas, legte die Hände auf die Oberschenkel und schnappte nach Luft. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Dieses Mal störte sie es nicht. Im Gegenteil. Sie lächelte Sebastian zu, der wie sie schnell atmete. „Talsächlich! Du hattest Recht!“ sagte er und erwiderte Sabrinas Lächeln. Sebastian legte seine Hand zart auf ihren Rücken. „Alles ok?“ fragte er fürsorglich. Sabrina richtete sich auf und genoss die Nähe. „Ja“, antwortete sie und schaute in Sebastians blauen Augen. Dann richteten beide ihre Blicke in Richtung Horizont aufs Watt, wo sich so viele verschiedene Vögel tummelten. Ein paar wateten auf dem Wattboden, andere landeten daneben. Ein paar andere Vögel stiegen auf und wechselten einige Meter weiter ihre Position. Es war beruhigend ihnen zuzuschauen und ihren Rufen zu lauschen. Sie schienen so weit weg, und doch hörte man sie klar und deutlich. Was für ein schöner Moment, dachte Sabrina. Sie fühlte sich in dieser Sekunde sehr wohl und wünschte sich nichts mehr als noch einmal berührt zu werden.

Ein paar Schritte weiter setzten sie sich auf das Gras des Deiches. Es war sehr weich und trocken. Sabrina winkelte die Beine an und schaute auf die See. “Wie schön das hier ist”, sagte sie. Sebastian lächelte. „Hörst du die Vögel?“ fragte er. „Ganz viele unterschiedliche. Und sie alle teilen sich den Lebensraum. So friedlich und respektvoll.“ Sabrina lauschte den Geräuschen aufmerksam und schloss die Augen. „Traumhafte Artenvielfalt“, fügte Sebastian hinzu und legte seinen Arm zärtlich um Sabrina.

(Ende)

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Sunfun Vor 1 Jahr 1